Post vom Theater:Kleist fürs Home-Office

Cecils Briefwechsel - Briefmarke

Marke Eigenbau: Frei nach Kleist (wie diese stilisierte Theaterbriefmarke) ist das Projekt "Cecils Briefwechsel" von Sapir Heller, Lena Wontorra und dem Mannheimer Ensemble.

(Foto: Nationaltheater Mannheim)

Wenn der Briefträger das Theater nach Hause bringt: Im Post-Drama "Cecils Briefwechsel" des Nationaltheaters Mannheim schreiben sich Theaterfiguren und Zuschauer Briefe.

Von Lina Wölfel

Kultur scheint seit Beginn der Corona-Pandemie zwangsläufig an Bildschirme gebunden zu sein: von der abgefilmten Vorstellung bis hin zu Zoom-Premieren, Webserien, Handy-Games und Social-Media-Formaten. Das Nationaltheater Mannheim wagt den Rückschritt ins Analoge und macht aus der geplanten Uraufführung von "Gott Vater Einzeltäter - Operation Kleist" von Necati Öziri ein Post-Drama im buchstäblichen Sinn des Wortes: In "Cecils Briefwechsel" schreiben sich Theater und Publikum gegenseitig Briefe. Ganz haptisch und ohne digitales Geflimmer.

Die Idee für das Post-Drama stammt von der Regisseurin Sapir Heller und der Dramaturgin Lena Wontorra, die das Projekt gemeinsam mit dem Ensemble umsetzen. Um an "Cecils Briefwechsel" teilzunehmen, bucht man ein Ticket über die Theaterkasse. Man wählt einen Starttermin aus, an dem man den ersten Brief erhalten möchte und wartet. Im ersten Briefumschlag befinden sich ein Typoskript, drei Teelichter, eine mysteriöse Schachtel und ein geschlossener Brief. Auf jedem Objekt eine Zahl - eine theatrale Versuchsanordnung auf dem eigenen Schreibtisch.

Anleitung

Sie haben Post! Mit der ersten Briefsendung kommen drei Teelichter, eine kleine Schachtel und die "Spielanleitung".

(Foto: Lina Wölfel)

Und dann beginnt Cecil, ihre Geschichte zu erzählen. Sie ist eine Figur aus dem Drama von Necati Öziri, die, wie die meisten der Teilnehmenden auch, ins Home-Office verbannt wurde. Von dort aus will sie ihr Netzwerk erweitern, das sich für eine "verbesserte Gegenwart" ohne Gewalt einsetzt. Mit ihrer Gruppierung, so erfährt man, ist sie kürzlich knapp einem Anschlag dreier Brüder entgangen. Gustav, Achilles und Michael entstammen Texten von Heinrich von Kleist und werden von Öziri geschickt zu einer Verkörperung patriarchaler Machtstrukturen verwoben. Gemeinsam mit den Adressaten will Cecil dem Ursprung dieser Gewalt in unserer Gesellschaft anhand der Lebenswege der drei Brüder nachgehen.

Die Briefe sind dabei keine bloßen Ausdrucke, die man überfliegt und danach in die blaue Tonne wirft. Sie wollen inszeniert werden. Darin liegt die Aufgabe der Teilnehmenden. So entfacht man ein Teelicht nach dem nächsten, wenn der Text einen dazu auffordert, zündet Salbeiblätter an, genießt den wohlriechenden Rauch und entfaltet eine Pop-up-Kirche. An einer Stelle ruft man sogar eine Telefonnummer an, um für den Fortgang der Erzählung von atmosphärischer Kirchenmusik begleitet zu werden.

Cecils Briefwechsel

Das selbstgebastelte Miniaturbühnenbild aus Pop-up-Kirche und Teelichtern. Cecil schickt den Text, lesen muss man ihn selbst.

(Foto: Lina Wölfel)

Doch in "Cecils Briefwechsel" bleibt es nicht beim selbstgebauten Miniaturbühnenbild. Immer wieder fordert Cecil dazu auf, Passagen laut zu lesen. Es ist ein harter Text voller Gewalt und poetischer Kraft, der provokant die Frage stellt: "Warum nimmt nie mal eine Frau eine Uzi in die Hand, lädt ordentlich durch, Munitionsgürtel um die Hüften (...), um dann dort, einfach mal so, alle über den Haufen zu schießen?" Und dann sollen wir wirklich laut lesen: "Warum machen das immer nur Männer?"

Dabei schließt Öziri immer wieder an Kleist an. Seine Erzählung "Die Verlobung in St. Domingo" dient dem Stück als Fundament. Der Antagonismus zwischen den starken, aktivistischen Frauen, die sich in einer Kirche treffen, um sich zu vernetzen und das Patriarchat zu unterwandern, einerseits und den aggressiven toxischen Männern andererseits funktioniert, weil nicht bloß stumpfe feministische Kampfparolen herausgehauen werden. Es wird erfrischend wenig Meinung vorgegeben, vielmehr muss jeder, jede das Gelesene für sich selbst reflektieren.

Dass man dabei ganz ruhig wird, trotz der Drastik im Text, mag auch an Kerzen und Kirche liegen. Cecil versorgt einen mit Zahlen und Fakten -"Nur etwa 29 Prozent der Führungskräfte in Deutschland sind weiblich, im Theater sind es sogar nur 22 Prozent" - und lässt einen am Ende mit den Fragen zurück: Wie können wir mit unserer eigenen Erziehung, die durch Macht- und Rollenvorstellungen geprägt ist, angemessen umgehen? Wann sind diese festgeschriebenen Bilder uns selbst schon mal begegnet?

Das Projekt leistet etwas, was vielen Streams fehlt: persönliche, intime Interaktion

Cecils Auftrag: ihr von den eigenen Erfahrungen zu schreiben und selber Antworten zu finden. So regt die Aktion auch zum Nachdenken über die eigene Erziehung an, über Strukturen, die man verinnerlicht hat oder gegen die man ankämpft. Es kann befreiend sein, diese Gedanken zu Papier zu bringen und anschließend an eine fremde Person zu schicken, fast wie ein Loslösungsritual. Der Austausch funktioniert, vor allem auch weil die Briefe tatsächlich persönlich beantwortet werden.

Damit leistet das Projekt etwas, was vielen Streams und flimmernden Bildschirmen fehlt: persönliche und intime Interaktion, von Kunst berührt und abgeholt zu werden. Zudem bringt der Gedanke daran, dass in ganz Deutschland gerade Briefe von Cecil unterwegs sind, einen Funken von Gemeinschaftsgefühl zurück. Als Zuschauer mag man erahnen, wie sehnsüchtig Brieffreunde in Kleists Zeiten auf die Postkutsche gewartet haben. Wobei auch heute manche Antwort zwei Wochen auf sich warten lässt - abhängig von der Deutschen Post.

Am Ende hat jeder Teilnehmer vier Briefe erhalten, nur der erste ist bei allen identisch. Am 15. und 22. März gibt es noch einmal Starttermine für den Briefwechsel mit Cecil, aber sie sind bereits ausgebucht. Jedes Zuschauerschreiben individuell zu beantworten, macht bei 200 Teilnehmern 600 persönliche Briefe - für das Theater "ein Wahnsinn" (O-Ton Pressestelle) und auf Dauer nicht zu bewerkstelligen. Sollte der Lockdown jedoch verlängert werden, will man aufgrund des hohen Interesses den Briefwechsel wieder aufnehmen.

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