Theater:Politisches Passionsspiel

Milo Raus "Orest in Mossul".

Milo Raus "Orest in Mossul“ ist ein selbst gedrehter Videofilmimport mit szenischer Live-Kommentierung. Oder umgekehrt: ein Erfahrungsberichttheater mit filmischer Doku-Beglaubigung.

(Foto: Fred Debrock)

Regisseur Milo Rau ist mit seinen Schauspielern vom NT Gent nach Mossul gereist, um dort mit irakischen Künstlern die "Orestie" des Aischylos zu proben und zu filmen. Das Ergebnis ist jetzt in Gent zu sehen.

Von Christine Dössel

Milo Rau und seine Mitstreiter sind so etwas wie die Blauhelmtruppe des europäischen Theaters. Immer dort im Namen des Friedens und der Weltverbesserung im Einsatz, wo ein politischer Brandherd ist (oder zumindest nachglüht), immer dort, wo es weh tut.

Dahin gehen, wo das Drama ist! Gemäß dieser Maxime hat der Schweizer Regisseur zum Beispiel für sein Theater- und Filmprojekt "Das Kongo-Tribunal" das Bürgerkriegsgebiet im Ostkongo aufgesucht und dort symbolisch einen internationalen Strafgerichtshof tagen lassen. Und sein neues Stück "Orest in Mossul", eine Koproduktion zwischen dem Nationaltheater Gent (NT Gent) und dem Schauspielhaus Bochum, entstand tatsächlich in der titelprägenden Stadt im Nordirak, der einstigen Hochburg des Islamischen Staates. Hier hat der Krieg mehr als eine Schneise der Verwüstung hinterlassen: ein regelrechtes Trümmerfeld. Auch in den Herzen der Menschen.

"Mindestens eine Produktion pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet ohne kulturelle Infrastruktur geprobt oder aufgeführt werden", lautet eine von zehn Regeln, die Milo Rau sich und dem NT Gent verordnet hat, seit er im Herbst die Leitung des flandrischen Theaters angetreten hat. Eine andere Regel verbietet die wörtliche Adaption von Klassikern. Und das oberste Gebot sagt: "Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern." Versammelt sind diese Forderungen in einem "Genter Manifest", dazu angelegt, das "Stadttheater der Zukunft" zu etablieren - was ebenso utopisch wie realistisch gemeint ist. Rau und seine Leute sind jedenfalls fest entschlossen, das Regelwerk umzusetzen. Um das Theater auf die Höhe jenes "globalen Realismus" zu bringen, der Rau als Ideal vorschwebt.

Entsprechend schnell und auf die wesentlichen Morde verkürzt wird die Atridengeschichte hier eingangs heruntererzählt

"Orest in Mossul" - die Premiere war jetzt in Gent - zeigt sowohl den Irrsinn als auch die Grenzen dieses Anspruchs. Aischylos' "Die Orestie", eine der größten und ältesten Tragödien der Menschheit, dient dabei nur als Handlungsskelett und überzeitlicher (abendländischer) Referenzpunkt. Entsprechend schnell und auf die wesentlichen Morde und Rollenprofile verkürzt wird die Atridengeschichte hier eingangs heruntererzählt.

Also: Agamemnon, der Anführer der Griechen gegen Troja, hat für guten Wind seine Tochter Iphigenie geopfert. Nach Rückkehr aus dem Krieg tötet ihn deswegen seine Frau Klytaimnestra, welche daraufhin von ihrem Sohn Orest getötet wird. Die Spirale aus Gewalt und Rache wird schließlich durch Athene beendet, welche Rechtsprechung und Demokratie einführt. Die Erinnyen, die rasenden Rachegöttinnen, werden besänftigt; sie wandeln sich in "wohlmeinende" Eumeniden.

So weit die Utopie des guten alten Aischylos. Mit ihr im Gepäck sind Milo Rau und seine europäischen Schauspieler nach Mossul gereist, in diese verwundete, kriegsversehrte Stadt, um der antiken Tragödie dortselbst auf den Puls zu fühlen - mit irakischen Künstlern als aktiv Beteiligte: Schauspielern, Musikern, Studierenden aus Mossul. Diese jedoch können für die Aufführungen im Westen nicht ausreisen. Deshalb ist das, was nun in Gent (und ab 17. Mai am Schauspielhaus Bochum und danach bei den Wiener Festwochen) zu sehen ist, ein selbst gedrehter Videofilmimport mit szenischer Live-Kommentierung. Oder umgekehrt: ein Erfahrungsberichttheater mit filmischer Doku-Beglaubigung. Milo Rau nennt es ein "Making-of".

Wie so oft in den Arbeiten des realismuslüsternen Rau wird explizit und drastisch Gewalt vorgeführt

Erzählt wird, was sie in Mossul erlebt haben, als sie versuchten, Themen, Szenen, Figuren aus der "Orestie" auf die Bühne zu bringen. Die Kamera zeigt bedrückende Bilder der zerschossenen Stadt. Gedreht wurde hauptsächlich vor der Kunsthochschule, auch sie völlig zerstört. Einige Szenen spielen auf dem Dach eines ehemaligen Kaufhauses, von dem der IS Homosexuelle hinabgestoßen hat. Rau zeigt Orest (Risto Kübar) und seinen Freund Pylades (Duraid Abbas Ghaieb) als schwules Paar, das sich küsst - im Irak ein absolutes Tabu. Das Befremden darüber und die Einwände werden mitdokumentiert.

Ein Fotograf spielt mit, der während der IS-Herrschaft unter Lebensgefahr Exekutionen fotografierte. Fotografieren war ebenso verboten wie Musik zu machen. Ein Musiker, der die Oud spielt, erzählt, wie schlimm es war, sein Instrument nicht benutzen zu dürfen, wie er es versteckte und heimlich manchmal zur Hand nahm.

Wie so oft in den Arbeiten des realismuslüsternen Rau wird explizit und drastisch Gewalt vorgeführt. Auf Video ist eine (gespielte) Strangulierungsszene zu sehen: Agamemnon, der belgische Schauspieler Johan Leysen, erwürgt quälend langsam eine verschleierte junge Frau, die irakische Darstellerin der Iphigenie. Sie quiekt, röchelt, presst den letzten Atem heraus, während drei Männer in langen Gewändern ungerührt zuschauen. Szenen, wie sie unter der Terrormiliz IS an der Tagesordnung waren, ebenso wie die Hinrichtungen kniender Männer mittels Genickschüssen.

Milo Rau ließ solche Tötungen während der zweiwöchigen Proben in Mossul nachspielen und filmen. In der fertigen Inszenierung sind sie groß auf der Leinwand zu sehen, werden aber auch auf der Bühne noch einmal re-enacted. So gibt es eine permanente Korrespondenz zwischen Videoscreen und Bühnenspiel, Schein-Dokumentarischem und Live-Act. Manchmal sagen die irakischen Darsteller etwas in die Kamera, auf das im Live-Spiel direkt reagiert wird, als seien sie anwesend. Das simuliert Unmittelbarkeit und hilft ein wenig über die allzu kühle (Re-)Konstruktionsanordnung hinweg.

Als Zuschauer bleibt man im interessierten, eher politisch-rational als emotional stimulierten Dokumentarfilmbetrachtungsmodus

Theatralisch wird an diesem Abend nicht viel geboten. Es gibt wenig Schauspielfutter und kaum Ansatzpunkte, um auf alte Tragödienart mitzufühlen, mitzuleiden oder gar eine Katharsis zu durchleben. Als Zuschauer bleibt man im interessierten, eher politisch-rational als emotional stimulierten Dokumentarfilmbetrachtungsmodus. Soll heißen: auf Distanz. Da hat man im Humanismustheater von Milo Rau schon ganz andere Gefühlsachterbahnen durchrauscht, während Menschenschicksale sich zu Weltpuzzles fügten. Hier scheinen die Umstände immer gewaltiger als jeder Einzelne. Es gibt keine Nähe, allenfalls eine Annäherung.

"Orest in Mossul" hat etwas von einem politischen Passionsspiel. Musikalisches Leitmotiv ist der Song "Mad World" (Roland Orzabal), den man danach tagelang nicht aus dem Ohr kriegt. In einer der wenigen richtigen Spielszenen mit psychologischem - und nicht nur wirklichkeitsdidaktischem - Anspruch sitzt der heimgekehrte Agamemnon mit seiner Kriegsbeute Kassandra (Susana Abdul Majid) beim Abendessen. Mit am Tisch: seine Frau Klytaimnestra, mit mimetischem Feintuning und kaum gezügeltem Hass gespielt von der großartigen Elsie de Brauw. Die Szene fällt aus dem Nachstellungsstil des Abends total heraus und ist doch eine der stärksten. Weil einfach nur gutes Theater. Danach wird schon wieder brutal und möglichst lebensecht gemordet. Es ist eine Tortur, wie und wie lange Orest Klytaimnestra tötet.

Und wozu das nun alles? "Tun-leiden-lernen" heißt die alte Tragödienerfahrung. Aber was lernen? Statt Athene tritt in Mossul die gläubige Khitam Idress in Erscheinung, deren Ehemann vom IS umgebracht wurde. Umringt von jungen Männern steht sie zwischen Trümmern und fragt die Runde, was mit den IS-Kämpfern geschehen soll, die so viel Unglück über sie gebracht haben. Töten oder begnadigen? Waren die Männer anfangs noch für die Todesstrafe, hebt am Ende keiner mehr die Hand. Nicht für das Todesurteil - aber auch nicht für eine Vergebung. Große Ratlosigkeit. Es ist ein bestürzend wahrer Moment. Da ist das Theater von Milo Rau dann wieder ganz auf dem Punkt, dem wunden.

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