Theater:Krank vor Liebe

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Burghart Klaußner und Maria Happel im „Besuch der alten Dame“. (Foto: Reinhard Maximilian Werner)

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen eröffnen mit einer Inszenierung von Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame".

Von Martin Krumbholz

Er stelle eine Welt auf, keine "Moral", hat der große Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt geschrieben, im Nachwort zur berühmten Komödie "Der Besuch der alten Dame".

Vermutlich hat der Autor gespürt, wie überdeutlich die Moral aus allen Ritzen und Fugen seines Stücks hervorquillt. Die Welt ist ein Bordell, alle sind käuflich, und man kann diese Erkenntnis nur mit Sarkasmus quittieren. Da musste eine beschwichtigende Erklärung her. Nun verdankt sich der exorbitante Erfolg der "alten Dame" aber wohl gerade dem Umstand, dass diese Parabel der Wirtschaftswunderzeit so wunderbar reibungslos aufgeht. Wenn sich der Vorhang schließt, ist keine Frage mehr offen. Oder doch?

Frank Hoffmann, der Intendant der Ruhrfestspiele Recklinghausen, hat seine in Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater entstandene Inszenierung des Stücks - wie die gesamte Spielzeit - unter das Motto "Heimat" gestellt. Damit gibt er dem Stoff schon mal einen etwas anderen Dreh. Weniger die Frage nach der Gerechtigkeit und ihrer "Käuflichkeit" steht im Mittelpunkt - Claire Zachanassian bietet einer verarmten Gemeinde eine Milliarde für den Kopf ihres Exgeliebten, der sie einst verraten hat -, sondern vielmehr der Themenkreis Heimat, Heimatgefühl, Heimatstolz, der momentan auf allen Ebenen diskutiert wird. Der Ort Güllen als Heimat, muss der unscheinbare Krämer Alfred Ill erfahren, das ist ein Abgrund an Scheinheiligkeit, an Würdelosigkeit.

"Are you ill?", fragt die Milliardärin zweideutig, nachdem sie den Schnellzug per Notbremsung zum Stehen gebracht hat. Ja, der Mann ist krank, heimatkrank, sein Alltag in einem Krämerladen, in dem es fast nichts zu kaufen gibt, ist trostlos. "Ich lebe in der Hölle", sagt der von Burghart Klaußner großartig gespielte Alfred Ill, "seit du von mir gegangen bist." Das ist zwar eine Schmeichelei und eine Notlüge, enthält aber zugleich mehr Wahrheit, als dem Mann bewusst ist. Mehr noch, Claire geht es ähnlich. Sie heiratet einen Idioten nach dem anderen und besteht nur noch aus Prothesen. Und eine subkutane Botschaft schält sich aus dieser Aufführung heraus, das einst versäumte, verscherzte Glück lässt sich nicht zurückrufen.

Es klingt banal und rührt doch an eine extrem schmerzhafte Stelle menschlicher Existenz; schmerzhafter jedenfalls als Dürrenmatts explizite Feststellung, die (kapitalistische) Welt sei ein Bordell.

Maria Happel, die Zachanassian, und Klaußner spielen also ein veritables Liebespaar, und nichts ist daran "peinlich", wie der Autor einst befürchtete. Einmal fällt ein Strohballen vom Schnürboden, die Szene spielt in einer Scheune, die Happel sitzt in einem Brautkleid auf dem Stroh, sie hat eben in der Güllener Kirche einen ihrer austauschbaren Männer geheiratet, dabei ist nicht zu übersehen, der wahre Bräutigam ist ihr Ex. Die beiden küssen sich sogar auf den Mund. Vergeblich bleibt diese Liebesmüh, im Hintergrund läuft unaufhaltsam das Rachedrama ab, die Güllener haben sich verschuldet und sind auf die Milliarde angewiesen.

Der Luxemburger Frank Hoffmann, der die Leitung der Ruhrfestspiele nach vierzehn erfolgreichen, wachstumsintensiven Jahren abgeben wird, hat sich mit dieser Inszenierung ein schönes Abschiedsgeschenk gemacht. Alle Komponenten passen perfekt zusammen. Der Künstler Ben Willikens hat eine grandiose Bühne gebaut. Anfangs ein hoher, bunkerähnlicher Bau mit Fenstern, durch die der Wind pfeift, eine zentral platzierte Bahnhofsuhr. Dann wird die Rückwand weggenommen, übrig bleibt eine Art Bauruine, der gigantische Haken eines Baukrans hängt drohend über allem, irgendwann wird er krachend hinabstürzen.

Das umfangreiche Personal hat Hoffmann natürlich entschlackt; umso exzellenter spielen die zehn Übriggebliebenen alle Facetten ihrer vom Autor eher holzschnittartig angelegten Figuren aus. Happel und Klaußner glänzen in den Hauptrollen, mit gehöriger Schärfe die eine, mit diskretem Pathos der andere. Die Riege der Scheinheiligen drum herum haut nie zu sehr auf den Putz, agiert mit feinem Gefühl für das komödiantische Timbre. Roland Koch als Bürgermeister, der sich in seinen Ansprachen so heillos verheddert wie in den Mikrofonkabeln bei der abschließenden Pressekonferenz, schießt dabei wohl den Vogel ab. Aber auch in der Interpretation der kleineren Rollen wie der des stoischen Butlers (Hans Dieter Knebel) findet sich eine Würde und, ja, eine Moral, wie sie in Dürrenmatts apokalyptischem Güllen längst den Bach heruntergegangen ist.

© SZ vom 05.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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