Theater Köln:Meta-Ebenen-Schichttorte

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Für „Wut“ hat der Regisseur selber diese Beine entworfen - schuppige Minarette. (Foto: Judith Buss)

Wo Text und Show sich bisweilen entsprechen: Jelineks "Schwarzwasser" und ihr älteres Stück "Wut" in Köln.

Lola Klamroth klettert in der "Grotte", der kleinen Container-Spielstätte des Kölner Depots, irre lachend in einem Quader aus ledergepolsterten Würfeln umher wie in einer Gummizelle. Sie berichtet von der Pest, die nicht gerufen wurde - "aber sie kam". "Krank kann jeder werden, der sich den Keim holt", heißt es in Elfriede Jelineks Stück "Schwarzwasser", das nun am Schauspiel Köln mit Corona-Verspätung unter Regie von Stefan Bachmann seine deutsche Erstaufführung erlebt hat. Das mit der Pest klingt lächerlich aktuell, obwohl von einer Pandemie noch keine Rede war, als der Satz entstand.

Die Pest, die Jelinek meint, ist der Sumpf der österreichischen Politik, repräsentiert in der sogenannten Ibiza-Affäre. Jenem verdeckt gedrehten Video aus dem Jahr 2017 also, in dem Hans-Christian Strache, er war damals Bundesparteiobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs, gemeinsam mit seinem Parteifreund Johann Gudenus mit einer vermeintlichen russischen Oligarchen-Nichte über Großinvestitionen und mögliche Parteispenden verhandeln. In Köln ist die Szene mit Pappkameraden nachgestellt, die man durch das Fenster eines Containers im Vorbeigehen in Augenschein nehmen kann.

Dass durch die Corona-Auflagen aus der ursprünglich für März geplanten Produktion eine gut anderthalbstündige Begehung des Mühlheimer Depots wurde, ist ein Glücksfall. Jelineks Textflächen eignen sich hervorragend zur Zerstückelung, das ist nicht neu. Dass aber nun durch die Aufteilung des Publikums in sieben Sechsergruppen, die in unterschiedlicher Reihenfolge sieben verschiedene Spielstellen abschreiten, aus "Schwarzwasser" ein Stationendrama geworden ist, macht den wahren Reiz dieses Abends aus.

Prophetie würde Elfriede Jelinek sich wohl kaum zuschreiben, trotz der vielen religiösen Bilder. Doch zumindest als Mahnerin lässt Bachmann sie in Person des Schauspielers Jörg Ratjen in der behindertengerechten Toilette auftreten. Den Jelinek-Hairstyle trägt er mit Würde, ebenso wie den Badeanzug mit Geldscheinmuster, ein verbindendes Designelement aller Kostüme. "Ich hab alles mindestens schon einmal gesagt - aber öfter geht bei mir auch", sagt diese Quasi-Jelinek mit sanfter Resignation.

Es geht immer wieder um die Opferrolle, in der Strache sich und sein aufrechtes Häuflein österreichischer Patrioten sieht. "Wir sind sieben Stunden lang reingelegt worden!", beschwert sich Tom Radisch, der es sich im nassen Sand unter der Zuschauertribüne ungemütlich gemacht hat. Wie alle anderen ist er umgeben von geleerten Red-Bull-Dosen. Das von Jelinek "Kraftlackl-Elixier" getaufte süße Nationalgetränk kommt ebenso wie die Geldmusterkostüme immer wieder vor. Besonders Nicola Gründel ist im Lastenfahrstuhl umgeben von einem regelrechten Dosenbeet, während sie sich am Festnetztelefon über die alles verseuchenden Gleichberechtigungstendenzen beschwert. Dann pinkelt sie Red Bull in die Ecke.

Überhaupt ist der ganze Abend von diesem süßlichen Gummibärchengeruch unterlegt, was zum Eindruck einer mehrdimensionalen Erfahrung beiträgt. Wie nebenbei bekommt man einen Einblick in die technischen Eingeweide des Theaters, kann im Vorbeigehen Ankündigungen des Personalrats an der Pinnwand oder Anweisungen studieren wie "Bei Pausenumbau 'Menschenfeind' Gehörschutz!". Die Gemachtheit des theatralen Ganzen wird dabei nie offensiv ausgestellt, sie ergibt sich einfach aus der Spielsituation.

"Das ist deutsches Theater, mit Blut und alles."

Was das Deuten auf sich selbst angeht, liegt Ersan Mondtags Inszenierung von "Wut" am entgegengesetzten Ende der Präsentationsskala. An den in am Knochenstümpfen endenden riesigen Vogelbeinen, die das Bühnenbild für diese zweite Kölner Jelinek-Premiere dominieren, kommt man im Laufe von "Schwarzwasser" schon vorbei, wird aber, ganz im Depot-Tour-Modus, irgendwie kein bisschen neugierig, herauszufinden, was sie und das längs geteilte Riesenei dazwischen wohl bedeuten mögen.

Wie sich herausstellt, sind die Beine, vom Regisseur selbst entworfen, schuppige Minarette; aus ihnen heraus ertönt ein Muezzin-Ruf, der rasch in "Nants' Ingonyama" aus Disneys "König der Löwen" übergeht. Damit ist der Ton für den Abend gesetzt. Man kann "Such den Kulturverweis!" spielen - ein bisschen "Exorzist", ein bisschen Barttracht für das nahöstliche ISIS-Flair, ein bisschen "Annoying Orange", ein bisschen "A Clockwork Orange" -, während man zusieht, wie die neunköpfige Besetzung Mondtags Meta-Ebenen-Schichttorte mit supergrellem Zuckerguss knapp zwei Stunden lang aufbackt.

"Wut", 2015 entstanden, war Jelineks Reaktion auf die islamistischen Pariser Terroranschläge auf die Charlie Hebdo-Redaktion und einen jüdischen Supermarkt. Einen überraschend aktuellen Anlass, das Stück wiederzubeleben, gäbe es sogar: Gerade erst gab es erneut einen Angriff in Paris, bei dem zwei Angestellte der Pariser Filmproduktionsfirma Premières Lignes schwer verletzt wurden, und zwar in der Rue Nicolas-Appert, im ehemaligen Redaktionssitz des Satiremagazins.

Jelineks nicht endender Stream of Consciousness springt zwischen etwas altbackenen Denkübungen zur Ewigkeit der Bilder im Internet, Ilias-Zitaten und der Beschwörung des Terroristenparadieses als "Parfümerie-Abteilung im Kaufhaus, in dem einem alles geschenkt wird". Dieses Assoziationsgewitter findet seine Entsprechung in der Bühnenaktivität, auch wenn selbstredend darauf geachtet wurde, dass Text und Show einander nur bisweilen entsprechen.

Benny Claessens darf die Zentrifugalkraft seiner campness so sehr auf Touren bringen - als menschliche Entsprechung der Drehbühne -, dass die anderen Darsteller Mühe haben, sich auf den Beinen zu halten. Er beschwert sich über den Spielort: "Das ist ja nicht mal ein Theater, das ist eine Baracke!" Er vollführt etwas, das er selbst "Spastikertanz" nennt: "Das ist deutsches Theater, mit Blut und alles." Sich in einer Wanne wälzend, tut er so, als würde er die Schauspielerkollegen porträtieren - und am Ende kommt immer nur ein Charlie Hebdo-Cover dabei heraus. Die Bilder auf diesen großgezogenen Reproduktionen sind allerdings unkenntlich, sozusagen unscharf gemacht. Da ist man dann schon vorsichtig am Schauspiel Köln.

Wortkaskaden werden atemlos geschrien oder deklamiert, unterlegt mit einem beeindruckend aufwendigen, aber eben auch verplätschernden, an- und abschwellenden Klangteppich von Beni Brachtel. Dieser wutlose "Wut"-Abend fußt auf einer Überwältigungsstrategie, die nie überwältigt, weil sie fortwährend demonstrativ von ihren eigenen Mitteln abrückt. Neben dem Bühnengeschehen ist auf zwei bis drei Bildschirmen gleichzeitig viel los. Da zündelt jemand in Guy-Fawkes-Maske vor dem brennenden Eiffelturm herum, ein toter Pierrot liegt mit Einschusslöchern auf einem weißen Sofa, Lola Klamroth - die hier wie in Bachmanns Inszenierung alles gibt - stellt gleich vierfach den toten Alan Kurdi am Strand bei Bodrum nach. Kritik? Ironischer Kunstgestus?

Die Erklärung wird in diesem Fall ausnahmsweise nicht ausformuliert mitgeliefert, anders als etwa in einer Szene, in der Benny Claessens auf einem goldenen Riesenpimmel reitet und erläutert, der stehe, was sonst, für "weiße, heterosexuelle Intendanten". Das kann man für bare Münze nehmen oder in beliebig häufiger Brechung betrachten - die Produktion sichert sich da ganz schlau und präventiv gegen jede Interpretation ab und bleibt deshalb bei aller lauten, karnevalesk kostümierten Materialschlachterei schwachbrüstig und richtungslos.

Während "Schwarzwasser" gleichsam den Schwung der Pandemiemaßnahmen für eine andere Ästhetik mitnimmt, ist "Wut" also eher eine Demonstration der Guckkasten-Trotzigkeit. Als eine Art Binnenverweis (oder kollegialen Seitenhieb?) schlägt Claessens gegen Ende eine Änderung vor: "Wir alle gehen in den Garten und spielen siebenmal den gleichen Monolog, in Gruppen von sechs." Das wäre zumindest einmal einen Versuch wert.

© SZ vom 29.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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