Süddeutsche Zeitung

Split-Screen-Stream:Theater im Kästchen

Stefan Bachmann hat seine Kölner Inszenierung "Vögel" von Wajdi Mouawad mit Split-Screen-Technik digital umgearbeitet.

Von Christine Dössel

Am Anfang ist das Querformat, guckkastenüblich. Blick auf eine lange Reihe von Tischen, an jedem ein lesender, blätternder, auch mal über sein Buch eingeschlafener Mensch. Ein schöner Anblick. Der Mensch bei einer seiner friedlichsten, ihn adelnden Tätigkeiten. Die Kamera zoomt auf jeden einzelnen. Wir sind in einer Bibliothek in New York. Der langhaarige Typ mit Brille links - wir lernen ihn bald als Eitan, einen Biogenetiker mit jüdischen Wurzeln, kennen - wird auf eine rothaarige junge Frau ein paar Tische weiter rechts aufmerksam, die arabischstämmige Studentin Wahida. Weniger wegen ihrer Schönheit als wegen des Buchs in ihrer Hand. Er spricht sie über die Tische hinweg an, und schon teilt sich der Bildschirm, zeigt links Eitan, rechts Wahida. Oder zeigt oben die beiden und unten die Totale. Zeigt Wahida in Einzelbildern aus zwei-, drei-, vielfacher Perspektive, zeigt sie frontal, im Profil oder auch mal über die Köpfe der anderen hinweg.

So beginnt eine interkulturelle Liebe im Intellektuellenmilieu. Und so beginnt ein Theater-Streaming im Split-Screen-Verfahren, einer Technik, derer sich der Kölner Intendant Stefan Bachmann bedient hat, um seine 2019 herausgekommene Inszenierung (zur SZ-Kritik hier) von Wajdi Mouawads Stück "Vögel" neu aufzubereiten: als Filmformat für die Sparte "Dramazon Prime", wie am Schauspiel Köln das coronabedingte Digitaltheater lustigerweise heißt.

Die Theater filmen Inszenierungen längst nicht mehr nur in der Totalen ab

Im Film war der Split Screen vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren eine beliebte Technik. Um zum Beispiel zwei Telefonierende gleichzeitig zu zeigen, wie Doris Day und Rock Hudson in "Bettgeflüster" (1959). Oder um die Komplexität und Dynamik parallel ablaufender Handlungsstränge wiederzugeben wie bei dem perfekt geplanten Bankraub in "Thomas Crown ist nicht zu fassen" (1968). John Frankenheimer zeigte in "Grand Prix" (1966) das Gewusel eines Formel-1-Starts im Split Screen. Brian De Palma nutzt das Verfahren gerne, um in Filmen wie "Die Schwestern des Bösen" (1973) oder "Femme Fatale" (2002) die Spannung noch zu erhöhen.

Bei Stefan Bachmann ist es ein Mittel, dem Zuschauer mehrere Blickwinkel gleichzeitig anzubieten, als es bei einer normalen Aufzeichnung eines Theaterstücks der Fall wäre, und kämen dabei noch so viele Kameras und Close-ups zum Einsatz. Darüber, eine Inszenierung einfach als "Mitschnitt" in der Totalen abzufilmen, sind die Theater spätestens seit den ersten Lockdown-Erfahrungen hinaus. Aufzeichnungen mit eigener Bildregie ernten indes oft den Vorwurf, den Blick des Zuschauers allzu ausschnitthaft zu führen, wenn nicht zu manipulieren.

In seiner Autonomie beschränkt ist der Zuschauer natürlich auch beim Kölner Split-Screen-Verfahren. Den total subjektiven Live-Theaterbesuch kann der multiperspektivische Film nicht ersetzen, aber als Experiment ist die digitale Umsetzung der "Vögel" auf- und anregend gelungen. Bachmann hat sich dafür Andreas Deinert an die Seite geholt, der als Live-Kameramann und Videodesigner etwa auch für Frank Castorfs Inszenierungen arbeitet. Wie er verschiedene Split-Screen-Formen einsetzt, um Szenen zu schärfen, zu kontrastieren und trotz einer Gesamtansicht gleichzeitig Details bei den Figuren herauszuarbeiten, Blicke, Regungen, Nervositäten, ist enorm intensiv und entwickelt einen starken erzählerischen Sog.

Die tragische Liebes- und Familiengeschichte bietet süffiges Erzähltheater

Wajdi Mouawads Nahost- und Generationenkonfliktdrama "Vögel" eignet sich dafür aber auch besonders gut. Die Liebesgeschichte zwischen Wahida und Eitan, die im Lesesaal der Bibliothek so romantisch ihren Ausgang nimmt, entwickelt sich zu einer tragischen Familiengeschichte vor israelisch-deutschem-palästinensischem Hintergrund, es ist eine Geschichte über mehrere Städte, Länder und Kriege hinweg. In Israel, wo der Hauptteil der Inszenierung spielt, kommen schließlich nach einem Anschlag drei Generationen an Eitans Krankenbett zusammen und einem von den Großeltern streng gehüteten Geheimnis auf die Spur.

Das alles ist von dem kanadisch-libanesischen Autor Wajdi Mouawad, einem Meister der politdramatischen Suspense ("Verbrennungen"), aller Textlastigkeit und Well-made-Konstruktion zum Trotz ungemein spannend und filmtauglich erzählt. Und so klar, unaufgeregt, szenisch elegant und auf die Figuren konzentriert, wie Stefan Bachmann das in aller Ruhe umgesetzt hat - man könnte auch sagen: fernsehgerecht -, fügt es sich astrein in das Bildschirm-Kästchen-Kleinformat. Das ist süffiges Erzähltheater mit einnehmenden Schauspielern wie Lola Klamroth (Wahida), Alexander Angeletta (Eitan) und einem in seinem Schmerz sehr berührenden Bruno Cathomas in der Rolle von Eitans jüdischem Vater David. Gesprochen wird in diesem Stück, das nicht zuletzt von Sprache und Identität handelt, auf Hebräisch, Arabisch, Deutsch und vor allem auf Englisch (das Englische wird seltsamerweise nicht untertitelt). Die Kölner Schauspieler machen das wirklich gut, sie haben dafür Sprachunterricht bekommen, im Intro des Films erzählen sie davon. Empfehlung!

Die nächsten Streaming-Termine der "Vögel" finden Sie hier.

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