Süddeutsche Zeitung

Theater:Zu viele Geister, die ich rief

Live-Schaltung in die ehemalige Kolonie: "Wir Schwarzen müssen zusammenhalten - eine Erwiderung" in den Münchner Kammerspielen.

Von Egbert Tholl

Liveschaltung nach Togo. Aus der Hauptstadt Lomé grüßt Jeannine Dissirama Bessoga und führt die Kamera ein bisschen herum: Man sieht eine Videoleinwand im Freien, davor ein paar Plastikstühle. Aus dem Werkraum senden die Münchner Kammerspiele live die Premiere von "Wir Schwarzen müssen zusammenhalten - eine Erwiderung" auf eine Videoleinwand. Digital überwindet Theater in Corona-Zeiten Grenzen und Kontinente.

Der bizarre Titel zitiert Franz Josef Strauß

Der Titel rührt her von einer bizarren Aussage von Franz Josef Strauß. 1884 wurde Togo deutsche Kolonie, 100 Jahre später reiste Strauß dorthin um 100 Jahre Freundschaft der beiden Länder zu feiern, aber er meinte eher seine Freundschaft zum damaligen kleptokratisch veranlagten Staatschef Gnassingbé Eyadéma. Strauß ging auf Großwildjagd, ließ sich wie ein König im offenen Wagen herumfahren und machte das, was er sehr gut konnte, ein paar Spezlgeschäfte. Dabei fiel der Satz, dass "wir Schwarzen zusammenhalten müssen", der Vertreter der schwarzen CSU und der schwarze Staatschef, ein toller Witz vom Urvieh, wie Strauß in der Aufführung genannt wird, vom "Carnivorus Corruptus". Vor Strauß kam schon der Herr März von der Rosenheimer Fleischfirma Marox nach Togo, brachte Bier und machte ein tolles Geschäft.

Im Februar dieses Jahres reiste der Regisseur Jan-Christoph Gockel mit seinem Kammerspiel-Ensemble zur Feldforschung nach Togo, erkundete die Spuren der deutschen Kolonialvergangenheit und die aktuelle Gegenwart, fand die Reste des Stegs, an dem die deutschen Dampfer anlegten und die Beute abtransportierten, traf Kokou Azamede, Historiker an der Universität von Lomé, der darüber grübelt, weshalb die Zeit der deutschen Kolonisation im Gedächtnis des Landes nicht mit Grauen behaftet ist. Die deutsche Kolonie gab es von 1884 bis 1914, danach stand Togo bis 1960 unter französischer Verwaltung, dann kam Eyadéma. Die Deutschen hinterließen ein paar Brücken, die noch stehen, eine Eisenbahn, die nicht mehr fährt, und in der Geschichtsschreibung geistert immer noch der Begriff der "Musterkolonie" herum, der nur bedeutet, dass sie Gewinn abwarf.

Gockels togolesisch-deutsche Koproduktion ist ein überbordendes Patchwork-Kunsterlebnis, kein abgefilmtes Theater, sie ist irre, witzig, klug und voller Zorn. Durch die Fülle des Materials aus mehr als hundert Jahren führt Cycy, die Geisterjägerin, gespielt von der wundervollen Nancy Mensah-Offei. Sie wird aus Versehen von Siegfried Gabba Bismarck gerufen, dem letzten deutschen Kolonialfunker, gespielt von Komi Togbonou, einem Schwarzen mit Pickelhaube, also eigentlich fast eine Unmöglichkeit, aber Gockels Mischung aus Film, Puppenspiel, historischen Dokumenten, Comic und Live-Theater macht eben auch das Unmögliche möglich.

Gockel mischt Film, Puppenspiel, historische Dokumente, Comic und Theater

Im Werkraum der Kammerspiele fuhrwerkt der Marox-März (Martin Weigel) in Eishockey-Montur herum - dank des Geldes aus dem Togo-Geschäft wurde die Rosenheimer Mannschaft dreimal deutscher Meister. Franz Josef Strauß tritt als Puppe auf, geführt von Michael Pietsch. Man hört eine Litanei deutscher Kolonial-Gräueltaten - brutale Strafen, medizinische Experimente mit tödlichem Ausgang. 2004 spricht das Auswärtige Amt von einer "vergleichsweise weniger belasteten kolonialen Vergangenheit" Deutschlands.

Irgendwann kapituliert Cycy, das Zukunftswesen, das aus einem havarierten Raumschiff hervor gekrabbelt kam. Es sind zu viele Geister. Und sie leben weiter. Der Neokolonialismus des Fleischfabrikspezlkönigs März mag inzwischen auch Geschichte sein, aber die Amigos sind munter, die Sauters und all jene, die einfach weitermachen. Aber sie bleibt trotzig: "Veränderung ist immer ein Akt der Gegenwart. Ich lebe weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, sondern in einer gemeinsamen Gegenwart."

Nächster Streaming-Termin: 23. März

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