Süddeutsche Zeitung

Theater:Ist Leid vererbbar?

Wajdi Mouawad triumphiert in Paris mit "Tous des oiseaux". Hintergrund des Stücks ist der Nahostkonflikt.

Von Joseph Hanimann

Ein hochbegabter Genetik-Student aus Berlin sitzt in einer New Yorker Universitätsbibliothek und bezirzt seine Nachbarin mit schwindelerregenden Wahrscheinlichkeitsrechnungen über Leben und Liebe. Vier Stunden lang folgen wir dann den beiden in ihren Abenteuern. Am Ende steht der junge Mann am Grab seines Vaters in Israel und legt einen Stein aus Palästina darauf. Aus der Heirat mit der Studentin ist nichts geworden und von seiner Familie fast nichts geblieben. Eitan, so der Name des Mannes, hatte nur an die Kombinationsfreiheit seiner 46 Chromosomen geglaubt und wurde von der Geschichte seiner Vorfahren eingeholt. Der Theatermacher Wajdi Mouawad legt damit eine seiner bisher wohl besten Arbeiten vor.

Dabei war der Anlauf mühsam gewesen, als der aus dem Libanon stammende Kanadier 2016 die Leitung des Pariser Théâtre National de la Colline übernahm. Mit einer schon älteren Produktion konnte sein Einstand nicht überzeugen. Mit "Tous des oiseaux" (Alles Vögel) jedoch, seinem neuen Stück, steht er plötzlich wieder als genialer Geschichtenerzähler da. Es geht in dem Stück vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts darum, wie die individualistischen Paradies- und Pechvögel der emanzipierten Nachkriegsgenerationen ihren kollektiven Vergangenheitsbindungen entfliehen und immer neu scheitern. Als Zuschauer muss man dabei, wie die Figuren über ihre inneren Identitätsgrenzen, ständig über Sprachgrenzen springen, denn die Inszenierung wechselt oft mitten im Satz hin und her zwischen Englisch, Deutsch, Hebräisch, Arabisch.

Um seinen Eltern seine neue Freundin Wahida vorzustellen, hat Eitan diese samt dem Großvater aus Berlin nach New York eingeladen. Der Anlass gerät zum Desaster. Wahida ist nicht Jüdin, sie ist Araberin. Für Eitans Vater ist das inakzeptabel. "Diese Araber sind uns von Gott als Strafe geschickt worden", flucht er, nachdem in Israel gerade wieder eine Bombe hochging. Eitans Mutter Norah, eine Deutsche, die in ihrer DDR-Jugend sich eher kleinlaut zu ihrem Judentum bekannte, fühlt sich hin- und hergerissen zwischen Mann und Sohn. "Gruppenidentität ist das Elend der Menschheit", schimpft sie. Eitans Großvater Etgar wiederum, ein KZ-Überlebender, versucht zu vermitteln. Erfahrenes Leid sei nicht vererbbar, doziert Eitan vor seinem Vater David: Kein einziges seiner 46 Chromosomen trage die Spur von Etgars KZ-Erfahrung. Danach ist zunächst mal Funkstille zwischen Eltern und Sohn.

Während Eitan nach dem unseligen Abend das auf dem Tisch liegende Besteck einsammelt, packt ihn aber seine Labor-Manie. Er steckt die Gabeln und Messer in gesonderte Plastiktüten, untersucht die DNA und entdeckt, dass beim Erbgut von Vater und Großvater etwas nicht stimmt. Um der Sache nachzugehen, reist er nach Israel. Was er dort herausfindet, wird seinen Vater ins Grab bringen. Er war nicht der, der er zu sein glaubte. Auch seine Freundin Wahida wird Eitan verlieren. Ihr geht bei der Israel-Reise unter den Palästinensern auf, dass sie sehr viel mehr mit ihnen verbindet, als sie als Studentin im fernen New York gedacht hatte, wo sie an ihrer Doktorarbeit schrieb über Hassan Ibn Muhamed Al-Wazzan, bekannt geworden als Leo Africanus, der im 16. Jahrhundert von christlichen Korsaren als Sklave dem Papst verkauft, von diesem bekehrt und befreit wurde und als Autor einer "Beschreibung Afrikas" in die Geschichte einging.

Diese Stofffülle hat Mouawad frei von Tabus und Verbrüderungsromantik auf der Bühne unter Hochspannung gesetzt. Inmitten von vor und zurück fahrenden Wänden oszillieren die Szenen zwischen Schauer und Humor. Die Bühne arbeitet mit der Filmtechnik der weichen Blende. Der Bibliothekstisch wird Esstisch, Operationstisch, Krankenbett. Verletzte und Tote stehen wieder auf und bleiben in der Folgeszene als Zeugen präsent. Wenn der bei einem Attentat in Israel schwer verletzte Eitan im Koma liegt und sein aus Berlin angereister Vater sich neben ihn legt, um zum ersten Mal unverkrampft zu seinem Sohn zu sprechen, richtet Eitan sich auf und versetzt mit sanften Fußtritten das Bett in eine Kreisbewegung wie ein Schiffchen auf hoher See, fern der politischen Realität, wo Identitätsfiktionen keine Bedeutung mehr haben. Doch bald dröhnen schon wieder die Abwehrflugzeuge der israelischen Armee über die Köpfe hinweg.

Manches mag forciert wirken, wenn etwa eine israelische Soldatin mit Befehlston die nackte Wahida bei der Kontrolle nach Sprengstoff abtastet und dann plötzlich die Plastikhandschuhe auszieht, um den Körper der jungen Frau ganz anders zu befühlen. "Wir zählen immer nur unsere eigenen Toten", sagt die Soldatin, "und wenn wir zufällig von der Überzahl der Toten von gegenüber erfahren, jubeln wir - so will es die Kriegslogik." Der bis zum Alter von neun Jahren im Libanon aufgewachsene Mouawad wollte mit seinem Stück in die Logik der "anderen" eintauchen. Er hat dabei wunderbare Figurenprofile geschaffen und steuert die Handlung mit der Unerbittlichkeit einer antiken Tragödie in die unerhörte Wahrheit von Eitan und seinen Vorfahren. Getragen wird die Aufführung von einer ausgezeichneten Truppe aus mehrsprachigen Darstellern vorwiegend aus Israel. Doch brilliert auch die Deutsche Judith Rosmair in der Rolle der Norah als Berliner Intellektuellenschnauze. Anders als sonst üblich hat die Mehrsprachigkeit hier nichts mit Tourneestrategien zu tun, sondern liegt in der Logik des Stücks. Grund genug, es auch auf deutschen Bühnen zu zeigen.

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Quelle:
SZ vom 05.12.2017
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