Theater in DortmundEnergie!

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Im Schauspiel Dortmund treten auf: Anke Zillich, Frank Genser und Alexandra Sinelnikova, diesmal in Tschechows "Möwe".
Im Schauspiel Dortmund treten auf: Anke Zillich, Frank Genser und Alexandra Sinelnikova, diesmal in Tschechows "Möwe". (Foto: Birgit Hupfeld)

"Play: Möwe" - Der Dortmunder Intendant Kay Voges sagt nach zehn super-erfolgreichen Jahren zum Abschied leise Tschechow. Dessen "Möwe" ist kaum wiederzu­erkennen.

Von Martin Krumbholz

Konstantin Treplew erschießt sich hier nicht. Der junge Schriftsteller ist in Anton Tschechows Künstlerdrama "Die Möwe" ja die tragische Figur: Er scheitert an sich und seinen Ambitionen, außerdem muss er mit ansehen, wie Trigorin, der erfolgreiche Literat, nicht nur seine Mutter, sondern auch seine Freundin Nina, die "Möwe", an sich reißt und mit einem Kind sitzenlässt. Treplew arbeitet an "neuen Formen" für das Theater - eigentlich wie Kay Voges, der Dortmunder Intendant, der sein Haus mit visuellen Medien verbündet hat.

Es wäre unangebracht, Voges mit Treplew gleichzusetzen. Kay Voges ist ja keineswegs gescheitert, er wechselt demnächst als Chef ans Wiener Volkstheater. In zehn Jahren hat er das Dortmunder Schauspiel zweifellos belebt, hat es bunter, schriller, aufregender gemacht. Er hat verstanden, wie sich "neue Formen" am Theater praktizieren lassen. Er hat allerdings auch einen hohen Preis dafür bezahlt. Klassische Literatur spielt nur noch eine Nebenrolle - als Stofflieferant und nützlicher Idiot. Kommen in einem kanonischen Text vier Künstler vor? Prima, die kann man für alle möglichen Künstler-Debatten gebrauchen. Ihre eigentlichen Konflikte interessieren weniger.

"Raus aus der Literatur!", heißt es daher auch für "Play: Möwe", sehr frei nach Tschechow. Voges und seine Dramaturgie nehmen den Text (in der Übersetzung von Thomas Brasch), schütteln ihn durcheinander und knüpfen Assoziationsketten. Trigorin und Treplew kann man kaum unterscheiden, beide sitzen an einer Schreibmaschine, sie räsonieren ziemlich hilflos über ihren Job. Fragmentierung ist hier alles. Jean-Luc Godard und seine "Histoire(s) du Cinema" haben bei dem Mash-up-Verfahren Pate gestanden. Voges hat in Dortmund Theatergeschichte geschrieben, jetzt, nach zehn Jahren, zieht er Bilanz.

Tschechows Melancholie kommt dabei durchaus nicht zu kurz. Als vorweggenommenes Abschiedsweh. Tschechows Figuren erinnern sich an die Schmerzen, die sie in ihrem Leben erlitten haben. Nina, die ihren Trigorin auch am Schluss noch liebt, stellt fest, nicht auf Ruhm und Glanz komme es an, sondern auf die Kraft, etwas auszuhalten. Das Ende der sogenannten Komödie ist bitter. Bettina Lieder transformiert Ninas Impuls setzt mit einem packenden Wut- und Klage-Monolog einen gewaltigen Energieschub frei. Sie ist da nicht mehr Nina, sondern die Schauspielerin Bettina Lieder, die sich die Seele aus dem Leib kotzt, weil (angeblich) niemand ihre Anstrengungen honoriert.

Das ist toll anzusehen, aber auch ein bisschen schräg, denn die Anstrengungen des Voges-Theaters sind ja sehr wohl honoriert worden, an Applaus fehlt es nicht. In seinen besten Arbeiten, etwa "Einstein on the Beach" von Robert Wilson oder auch dem "Theatermacher" von Thomas Bernhard hat Kay Voges sich entweder an die Vorlage gehalten oder sie aber so signifikant verändert, dass man zugeben musste: Aha, so geht es also auch - man kann also einem Theatermacher das Monopol streitig machen und durch die Aufteilung seines Parts auf viele Beteiligte zeigen, dass hier jeder und jede ein Theatermacher, eine Theatermacherin ist. Sozusagen eine Demokratisierung einer autoritär-patriarchalen Textfläche durch die Regie.

Am Ende seiner zehnjährigen "Reise" ist das Voges-Ensemble nun so vom Erfolg verwöhnt, dass es sich sogar leisten kann, einen kunterbunten, überfrachteten Abend, bei dem es um alles und nichts geht, als "Play: Tschechow" laufen zu lassen und sich selbst zu feiern. Die neuen Formen haben das Theater im Kohlenpott erreicht, wandern demnächst nach Wien aus und kehren vermutlich in anderer Gestalt zurück.

© SZ vom 24.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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