Theater:Geistesertüchtigung

Turnen Spielart

Das Interessante hier ist der Hintergrund: "Versuch über das Turnen" von "Hauptaktion" aus München.

(Foto: Spielart)

Beim "Spielart"-Festival wird ein Wochenende lang nachgedacht und das eigene Nichtwissen über ferne Länder sinnlich behoben

Von Eva-Elisabeth Fischer und Egbert Tholl

Royce Ng, ein Hongkong-Chinese, steht da mit ausgebreiteten Armen, so dass man die historische Landkarte auf der Rückseite seines Kimonos in voller Größe sehen kann. Es handelt sich wohl um die Mandschurei, von 1937 an Schauplatz des zweiten japanisch-chinesischen Krieges, wo Japans Premierminister Kishi Nobusuke bereits 1932 einen Marionettenstaat namens Mandschukuo gegründet und zur gründlichen Ausbeutung der dortigen Rohstoffvorkommen die Planwirtschaft eingeführt hatte. Ein System, wie es noch für das heutige Nordkorea gilt.

Kishi und sein moralisch verkommenes Kaiserreich stellt Royce Ng als zunehmend erregter Erzähler also beim "Spielart"-Festival in der Muffathalle in seiner Performance "Kishi the Vampire" vor, in der genannter Politiker tatsächlich als skelettierter Blutsauger in Pink wie in einem Horrorfilm herumgeistert, moderiert von einer sprechenden Vagina.

Man schaut sich das alles fasziniert, vor allem aber verwundert an, denn man fragt sich verschämt, auf seine eurozentristische Viertelbildung beschränkt: Wer, zur Hölle, ist Kishi? Und so ergeht es einem immer wieder an diesem hochinteressanten, erschöpfenden Freitagnachmittag in der Muffathalle, an dem "Crossing Oceans", das "Diskurs- und Performance-Wochenende über Post-Kolonialismus, Identitäten und Vielfalt", mit einer Flut von bisher nicht gekannten Künstlern aus Südostasien und Afrika beginnt. Und man begreift, dass die Theaterkunst beim heurigen Festival Spielart vor allem als sinnliche Veranschaulichung das Nicht-Gewusste begleitet, das man sich erst erarbeiten muss.

Neo Muyanga, zum Beispiel, ein begnadeter Sänger und Pianist aus Kapstadt, der in Triest die Gesangsform Madrigal studiert hat, diskutiert mit Laila Soliman aus Kairo, von der man bereits das Vergewaltigungs-Doku-Drama "Zig-Zig" gesehen hat, über (Selbst-)Darstellung zu verschiedenen Entwicklungsstufen. Muyanga ist unter Minenarbeitern in Soweto aufgewachsen und recherchiert seit acht Monaten mit Soliman ein gemeinsam in Kairo begonnenes Projekt. Im Zentrum steht das Lungenmuseum in Soweto, Manifest tödlicher Ausbeutung vor und nach dem Ende der Apartheid. Nora Chipaumire, die starke Frau aus Simbabwe - die in "Portrait of myself as my father" ihren Vater an der Leine vorführt - interveniert vehement. Wo denn da die Frauen blieben? Man zeige einen "Ausschnitt der männlichen, schwarzen Gesellschaft, hervorgebracht durch Wanderarbeit", kontert Neo Muyanga kleinlaut. In seiner großartigen Musik-Satire "Tsohle - a Revolting Mass" konzentriert er sich ja auch auf den alten und neuen Macho.

Das Diskurs-Wochenende wird noch Gegenstand einer weiteren Betrachtung sein, wobei Betrachtung eigentlich das falsche Wort ist, Nachdenken ist besser, oder vielleicht Versuch über ein Nachdenken. Mit Versuch an sich kehrt man zu den Tagen vor dem Wochenende zurück, zu dem "Versuch über das Turnen - ein Tanzfonds Erbe-Projekt". Hinter dem steht das Kollektiv "Hauptaktion", bestehend aus dem Regisseur Oliver Zahn, dem Kulturanthropologen Julian Warner und der Produzentin Hannah Saar. Der "Versuch" wurde von den Münchner Kammerspielen und "Spielart" selbst sowie weiteren nationalen Institutionen koproduziert und firmiert letztlich als Münchner Beitrag zum Festival.

Der Titel passt, denn "Versuch" impliziert Scheitern. Die Grundidee ist reichlich faszinierend: Mittels der Geschichte der deutschen Turnbewegung wird die Entwicklung deutscher Nationalismen von 1811 an erzählt. Dafür hat die Hauptaktion auch tolle Bilder gesammelt, die raumbreit in einer Turnhalle an der Dachauer Straße an die Wand projiziert werden, massenornamentale Ereignisse wie 1987 in Leipzig zur Feier der letzten Zuckungen der DDR, 1939 in Lüderitz in Sehnsucht auf die dereinst wieder in der ehemaligen Kolonie Deutschsüdwestafrika wehenden deutschen Fahnen, viel 19. Jahrhundert, in welchem die Turner zur Reichsgründung mit beitrugen, aber auch der jüdische Turnverein 1913, der seinen Mitgliedern "die verlorene Spannkraft wieder geben" will.

Arbeiter turnen, Zionisten turnen, Nationalisten turnen. Bei der Hauptaktion turnen ein paar Darsteller, die das kaum können und weder die Monumentalereignisse von den Fotos nachstellen noch zu diesen irgendeine Haltung entwickeln. Das Dritte Reich bleibt ausgespart, warum auch immer. In ausgehändigten Überstrümpfen betritt man die Turnhalle, ohne eigenes Schuhwerk ein bisschen so gleichgemacht wie es die Turnvereine mit ihren Mitgliedern tun. Eine Ausstellung des Materials wäre tausendmal besser gewesen, die Performance ist komplett nutzlos. Steht man nebenan vor der Glasfront des Fitnessstudios und sieht die Menschen im Gleichschritt auf den Laufbändern, hat man ein eindrucksvolleres Bild von entindividualisierender Massenertüchtigung vor Augen.

Sport gibt es auch bei Mallika Taneja aus Delhi. Zusammen mit dem Schauspieler Shubham läuft sie im HochX eine Dreiviertelstunde lang auf der Stelle, eine wortlose Metapher fürs Weitermachen ohne Ziel und ohne Sinn. Danach gibt's im Festivalzentrum Curry.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: