Theater:Friede, Freude, Tiefkühlpizza

Jenny König
Foto: Stephen Cummiskey

Noch ist Orlando ein Edelmann, 400 Jahre später aber wird er eine sie und Dichterin sein.

(Foto: Stephen Cumminskey)

Virginia Woolfs Roman "Orlando" erzählt die Entwicklung eines priveligierten Edelmanns in eine emazipierte Dichterin. Katie Mitchell hat den Stoff jetzt in der Berliner Schaubühne inszeniert.

Von Anna Fastabend

Je länger man Katie Mitchells genderfluidem Orlando auf der Premiere der Virginia-Woolf-Adaption beim Rauchen, Poetisieren und Herumvögeln zusieht, desto mehr wünscht man sich von der Schaubühne Berlin aufs heimische Sofa zurück. Eine Folge "Queer Eye" auf Netflix hätte einem dieselbe wichtige, wenn auch etwas überstrapazierte Botschaft "Sei einfach du selbst" vermittelt. Zeitgemäßer und unterhaltsamer.

Keine Frage: Virginia Woolf und Katie Mitchell haben Geschichte geschrieben. Woolf, die das menschengemachte Konzept von den zwei Geschlechtern bereits etliche Jahre vor Judith Butler kritisierte. Und Mitchell, die mit ihren eindrücklichen Frauenfiguren und Theater-Kino-Hybriden einfach unverwechselbar ist.

Mitchell verdankt Woolf vieles. Immerhin war es deren Experimentalroman "The Waves", der sie 2006 zu ihrem besonderen Stil inspirierte. Um die inneren Monologe aus dem Buch darzustellen, setzte die Regisseurin Nahaufnahmen und Voiceover ein. Seitdem befindet man sich in Mitchells Stücken an einer Art Filmset, dessen Ergebnis via Video-Live-Schnitt parallel zum gezeigten Dreh abgespielt wird. Dies weckt natürlich Erwartungen an den bevorstehenden Abend, die umso größer werden, als man erfährt, dass in nicht mal zwei Stunden mehr als 400 Jahre Zeitgeschichte abgebildet werden sollen. Von acht Darstellern, die rund 90 Charaktere spielen, unzählige Kostümwechsel inklusive.

Es scheint, als habe Mitchell auf Autopilot geschaltet

Wer nun auf eine ähnlich knallbunte Show wie Taylor Macs 24-stündigen Parforceritt durch 240 Jahre US-Popgeschichte oder die ein oder andere Voguing-Einlage aus der Ballroom-Szene hofft, wird enttäuscht sein. Damit ist keineswegs gemeint, dass LGBTQ*-Themen ( das Kürzel steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen) grundsätzlich aufgedreht und regenbogenfarben sein müssen, doch etwas mehr Extravaganz und queerer Spirit hätte dieser Inszenierung gut getan. Stattdessen vollzieht sich Orlandos Entwicklung vom privilegierten Edelmann zur emanzipierten Dichterin in gedeckten Farben und strukturierten Bahnen und wirkt ziemlich fantasielos. So hat man schon während der ersten paar Minuten ein Déjà-vu, was daher rührt, dass so einiges an Sally Potters "Orlando"-Verfilmung aus den Neunzigern erinnert. Jenny König, die in Mitchells Inszenierung den Orlando spielt, könnte von Aussehen und Spielweise die kleine Schwester von Filmdarstellerin Tilda Swinton sein. Auch der Gag mit dem ausladenden Reifrock, der Orlando nicht mehr durch die Flure des Anwesens passen lässt, wirkt von dort abgeguckt.

Es scheint, als habe Mitchell auf Autopilot geschaltet. Die Schauspieler hasten wie ferngesteuert von einer Markierung zur nächsten, um pünktlich zur neuen Filmszene an Ort und Stelle zu sein. An ihrer Seite die viel gerühmte Entourage, die viele sehr ähnliche Kostümteile reicht, Kameras aufbaut und die Tonangel hält. So rast man von einem Zeitalter, Liebesakt und Festbankett zum nächsten, oft, ohne genau zu wissen, in welcher Epoche man sich gerade befindet und was Sache ist.

Präzise und humorvoll wird es hingegen immer dann, wenn Mitchell den Geschlechterkampf zwischen Frau und Mann karikiert

Bedauerlicherweise will Woolfs wunderbare Befreiungsgeschichte nicht so recht zu Mitchells starrem Regiekonzept passen. Am expressivsten sind da noch die wild durcheinander gewürfelten Kameramarkierungen auf dem Bühnenparkett, die es wie ein eigenwilliges Tape-Art-Gemälde aussehen lassen. Ebenso wenig passt das Komödiantische, das der fiktiven Biografie über Woolfs Liebhaberin Vita Sackville-West innewohnt. Der schriftstellerische Abgesang auf die Heteronormativität ist ziemlich witzig, was man über das Stück leider nicht sagen kann. Von einzelnen Szenen und den von Alice Birch bis in die Gegenwart fortgeschriebenen und von Synchronsprecherin Cathlen Gawlich in ironischem Unterton vorgetragenen Formulierungen einmal abgesehen.

Völlig kontraproduktiv ist die Szene, in der Jenny König splitternackt vor dem Spiegel steht, um zu beweisen, dass aus Orlando eine Frau geworden ist. Immerhin geht es bei Genderfluidität ja gerade darum, Geschlechtsidentität und Geschlechtsmerkmale getrennt voneinander zu betrachten. Da ist die Entblößung als Beweismittel - Originalerzählung hin oder her - natürlich problematisch. Ferner die seltsam weltfremden Gegenwartsszenen, die man getrost mit erst ein bisschen Berghain und dann Friede, Freude, Tiefkühlpizza umschreiben kann. Hallo? Erde an Mitchell. Was ist mit der aktuellen Debatte rund um das dritte Geschlecht, was mit den zunehmenden Anfeindungen queeren Personen gegenüber?

Präzise und humorvoll wird es hingegen immer dann, wenn Mitchell den Geschlechterkampf zwischen Frau und Mann karikiert. Wenn Jenny König die schadenfrohe Angebetete und Konrad Singer die männliche Schmeißfliege spielt, merkt man, dass Mitchell inhaltlich zu Hause ist. Ansonsten wirkt das Stück im Gegensatz zum progressiven Programmheft erstaunlich antiquiert.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: