Süddeutsche Zeitung

Theater: Frankenstein:Lügen lernen

Oscarpreisträger Danny Boyle inszeniert in London Frankensteins Monster als eloquenten, tragisch gestürzten Satan. Boyles Arbeiten können gar nicht anders, als cool sein.

Alexander Menden

Ein nackter, vernarbter Mann klatscht auf den Bühnenboden. Das Wesen, das da aus einer auf einen Holzrahmen gespannten Membran gefallen ist, zuckt wie unter Stromstößen, während am gigantischen, keilförmigen Metallbaldachin über den Köpfen des Publikums Hunderte von Glühbirnen aufleuchten. Minutenlang windet sich die in die Welt gespiene Kreatur, lernt allmählich, ihre Glieder zu kontrollieren, zieht sich zusammen, streckt die Beine, und krönt ihr Ringen um den aufrechten Gang unter würgendem Lachen mit einem Galopp um das Rund der Drehbühne. Mit einer brutalen Pseudogeburt, einer Evolution im Zeitraffer beginnt "Frankenstein" am Londoner National Theatre.

Noch bevor etwas über die Produktion bekannt war, sorgte allein der Name des Regisseurs Danny Boyle dafür, dass alle Vorstellungen schon vor dem Eröffnungsabend ausverkauft waren. Sein Film "Trainspotting" war einer der bemerkenswertesten der neunziger Jahre, "Slumdog Millionär" gewann 2009 acht Oscars und in diesem Jahr war er mit "127 Hours" schon wieder nominiert. Und dennoch ist "Frankenstein" keine jener Produktionen, für die aus Publicityerwägungen ein Kino-Mensch als Seiteneinsteiger rekrutiert wurde. Für Boyle ist es eine Rückkehr. Er gehört wie Kenneth Branagh und Sam Mendes zu jenen britischen Filmregisseure, die am Theater angefangen haben: Von 1982 bis 1987 war er am Royal Court Theatre und inszenierte für die Royal Shakespeare Company.

Dort lernte er Nick Dear kennen, der nun die Bearbeitung des Romanklassikers besorgt hat. Dear hat die Geschichte gerafft, lässt den biografischen Hintergrund Victor Frankensteins weg und konzentriert sich auf die Entwicklung der Kreatur und auf das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf: also die versuchte Annäherung des einen an den anderen, den Bau und die blutige Zerstörung einer Gefährtin für die Kreatur, schließlich deren verzweifelter Vergeltungsakt, der Mord an Frankensteins Frau.

Wer erwartet, ein Stück, dessen Stoff so eng mit der Filmgeschichte verbunden ist, werde sich Kino-Klischees wie Halsbolzen und Quadratschädel bedienen, wird rasch eines Besseren belehrt. Das Wesen, das Boyle und Dear präsentieren, ist kein schlurfender, tumber Riese. Sein Ganzkörpermakeup, die langen, groben Operationsnarben ist zweifellos monströs. Doch dahinter verbirgt sich jener "moderne Prometheus", den Mary Shelley 1816 erdachte. Das Monstrum lernt unter der Anleitung des blinden, verarmten Gelehrten de Lacey, mit wundervoll milder Ironie gespielt von Karl Johnson, erst Sprechen, dann lesen und räsonieren. Doch es lernt noch andere Dinge, wie Frankensteins Frau Elisabeth berichtet: "Wie man ruiniert, hasst, entwürdigt und erniedrigt. Und zu den Füßen meines Meisters lernte ich die höchste aller menschlichen Fähigkeiten, die kein anderes Wesen besitzt: ich lernte zu lügen."

Boyle hat die Instinkte des Filmemachers nicht verdrängt. Die Inszenierung ist ohne Pause in zwei straffen Stunden vorbei, und Einlagen wie die riesige Steampunk-Dampflock, die in einer Szene zischend auf die Bühne rauscht, erwachsen sichtlich aus reiner Lust am visuellen Spektakel. Zudem können Boyles Arbeiten gar nicht anders, als cool sein: Die pulsierende Soundlandschaft der Produktion stammt von dem Duo Underworld, dessen Track "Born Slippy" "Trainspotting" seinen Rhythmus verlieh. Mark Tildesleys Bühnenbild, in dem alle Wände wie mit grauer Haut überspannt wirken, ist zugleich minimalistisch und titanisch. Doch alles dient den großen, alten Fragen nach dem Kern des Menschseins und den Grenzen von Wissenschaft, die im Zentrum der Geschichte und der Produktion stehen.

Das Stück ist gerade deshalb nicht ohne Tücken. Die Szene, in der die Kreatur unvermittelt beginnt, aus Miltons "Verlorenem Paradies" zu zitieren, könnte zum verkrampften Kitsch geraten. Stattdessen ist sie ein wahrer Gänsehautmoment. Das ist nicht zuletzt dem brillanten Jonny Lee Miller zu verdanken, der mit dem ebenso brillanten Benedict Cumberbatch Vorstellung für Vorstellung die Hauptrollen tauscht. An diesem Abend ist Miller die Kreatur. Er erfüllt sie mit einer Würde, die nicht von ungefähr an Miltons tragisch gestürzten Satan gemahnt, mit dem das Monster sich selbst vergleicht: Es ist eloquent, trotz einer Sprach- und Koordinationsstörung. Es ist bemüht, seine primitiven Impulse zu unterdrücken.

Doch mit Frankenstein, einem brütenden Demiurgen im Gehrock, ist kein Dialog möglich. Er verströmt in der Darstellung des aristokratischen Rotschopfs Benedict Cumberbatch eine kaum kontrollierte Arroganz, die sich aus loderndem Größenwahn speist. Cumberbatch vermeidet dabei jede Karikatur; sein Victor ist auf seine Art ebenso einsam wie seine Schöpfung, ein Genie, gefangen in der eigenen Hybris. Als er sich von seiner Kreatur beschreiben lässt, wie sich Liebe anfühlt, sieht man langsam Panik in ihm aufsteigen

. Am Ende hat Frankenstein sein Monstrum bis in die Eiswüste der Arktis verfolgt. Und während er, seinen Schlitten hinter sich herschleppend, in ein gleißendes Licht hinkt, immer auf der Spur der Kreatur, begreift man, dass die beiden die Welt verlassen haben und in einen eisigen Kreis der Hölle vorgestoßen sind. Frankenstein und sein Geschöpf sind zu Inkarnationen der Hoffnungslosigkeit geworden, sind hinübergegangen vom Shelley- in ein Beckett-Universum.

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SZ vom 03.03.2011/kar
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