Süddeutsche Zeitung

Theater:Folter im Whirlpool

Kay Voges versucht sich in Dortmund eindrucksvoll an einer Theaterästhetik des Internet-Zeitalters.

Von Cornelia Fiedler

"Gegenwartsschock" lautet die ernüchternde Diagnose. Die Symptome: irre Leistungshochs und totale Erschöpfung, Überinformiertheit und zu wenig Zeit zum Denken. Die Ursache: Als medial vernetzte Multitasker leben wir, so der amerikanische Medientheoretiker Douglas Rushkoff, im ständigen Versuch, mit uns selbst Schritt zu halten. So ist die Lage. Das aber konnten, bei allem Weitblick, weder Shakespeare noch Lessing ahnen. Wer heute Theater macht, weiß es, und muss sich, das entsprechende Quantum an Energie und Wahnsinn vorausgesetzt, an genau dieser Wirklichkeit abarbeiten, finden die Dortmunder Theatermacher um Intendant Kay Voges. Mit ihrer "Borderline Prozession" wagen sie einen "ersten Versuch": größenwahnsinnig und grandios, inspirierend und erschlagend zugleich.

Wer die riesige Halle des Dortmunder Megastore betritt, muss sich entscheiden: entweder für den Blick auf eine Reihe wohlig ausgeleuchteter Innenräume im Schöner-Wohnen-Stil; oder den Blick auf die Rückseite der mit Natodraht gesicherten Wohnfestung, eine triste Straßenszenerie mit Horrorfilm-tauglichem Minivan. Diese beiden Seiten einer globalen Wirklichkeit umkreist eine Prozession schräger Gestalten. Ihr melancholischer Gesang, "Oooh, give me the words" nach der amerikanischen Avantgarde-Pop-Band Tuxedomoon (Live-Musik und Komposition: T.D. Finck von Finckenstein), wird zum Flehen um Worte, welche die überfordernde Wirklichkeit fassen können. Dem Heiligen an der Spitze des Zuges ist das egal, Kameramann Jonas Schmieter im goldenen Jumpsuit liefert stattdessen von seinem Dolly-Kamerawagen aus eine kontinuierliche, überfordernde Flut von Live-Bildern.

Aus der Prozession lösen sich Figuren, ein Portier bezieht Position an der Tür, eine Frau unter der Dusche, ein Sterngucker vor dem Teleskop auf der Dachterrasse, ein Mann im String im Rotlicht-Schaufenster. Regisseur Voges und seine Dramaturgen Dirk Baumann und Alexander Kerlin haben Miniszenen entwickelt, die sich in leichter Variation penetrant wiederholen, als würde jedes Ereignis erst dann "wirklich", wenn die Kamera es einfängt und auf Leinwand bannt. In ihrer schmerzhaften Schönheit sind sie angelehnt an die "Inszenierte Fotografie" von Künstlern wie Jeff Wall. Mehr als 50 Rollen und Perspektiven werden so den Abend über geschichtet und multimedial verschränkt, das Ensemble erhält Verstärkung von zehn Essener Schauspielstudierenden. Absolut beeindruckend ist, wie das Spiel fürs Publikum und das für die Kamera perfekt harmonieren - so als wären Kino und Theater nie getrennte Künste gewesen.

Gestört, kommentiert und hinterfragt wird das meist wortlose Bühnengeschehen durch ein Text-Mashup über Wahrnehmung, Grenzen und Ikonografie, mal als Übertitel, mal im Bühnenlabyrinth gesprochen. "Was wäre ein Bild, das kein Klischee ist", fragt da etwa Gilles Deleuze. Die AfD krakeelt, dass das Theater gefälligst "zur Identifikation mit unserem Land" anregen solle. Und Gott zieht mit der Trennung von Himmel und Erde in der Genesis mal eben die erste Grenze.

Trotz gezielter Irritationen - offenbar wird da im schicken Whirlpool gefoltert - lullt der technisch perfekte Bilderreigen einen anfangs ein. Die bedeutungsschwere Kombination aus Filmmusik und nachdenklichem Text beginnt langsam zu nerven. Dann folgt aber eine Unterbrechung, die Plätze werden gewechselt, Teil zwei beschleunigt, spitzt zu, eskaliert. Einsamkeit, Gewalt und Trauer drängen in den Vordergrund. Eine Frau stirbt, ihre erwachsenen Kinder stehen overdressed im Schlafzimmer, unfähig zu Nähe. Im Pool wird geknutscht. Draußen schießt ein Kriegsinvalide um sich. Eine Frau wird vergewaltigt. Ein Nazi brüllt. Ein junger Mann spricht leise und kaum beachtet auf Arabisch Shakespeares Monolog des Juden Shylock. Aktuelle Nachrichten prasseln hernieder. Menschen drehen durch.

Im Finale, nach einem weiteren Perspektivwechsel, übernimmt, frei nach Jonathan Meese, eine Horde Lolitas das Regiment. Sie inszeniert mit einigem Slapstick die Beerdigung Napoleons - und damit laut Programmheft "die Utopie einer Welt ohne Männer wie ihn. Punkt". Als Essenz eines hochkonstruierten Wahrnehmungsexperiments ist das überraschend flapsig, aber auch schön unprätentiös. Inhaltlich bleibt das Konzept sicherlich ausbaufähig. Als Formexperiment aber, als Reflexion über eine Theaterästhetik des Internet-Zeitalters setzt der Abend definitiv einen Standard.

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Quelle:
SZ vom 28.04.2016
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