TheaterExperimentierreihe

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Stephan Kimmig verwandelt Tschechows "Platonow" in "Platonowa". Das Stück gerät leider etwas krampfhaft in seinem Bemühen, divers zu sein.
Stephan Kimmig verwandelt Tschechows "Platonow" in "Platonowa". Das Stück gerät leider etwas krampfhaft in seinem Bemühen, divers zu sein. (Foto: Katrin Ribbe)

Die neue Intendantin am Schauspielhaus Hannover Sonja Anders versucht, in ihrem Theater die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden.

Von Till Briegleb

Sonja Anders ist charakterlich konkret. Problem erkannt, Problem gebannt, könnte man über ihr Dienstzimmer als Motto schreiben. Und weil sie jetzt endlich Intendantin ist, nachdem sie fast 20 Jahre lang bei Ulrich Khuon erst am Hamburger Thalia-Theater und dann am Deutschen Theater in Berlin als Dramaturgin, zuletzt auch als stellvertretende Intendantin gearbeitet hat, kann sie jetzt Dinge konkret ändern, über die woanders nur geredet wird. Ungleichbezahlung von Frauen und Männern am Theater zum Beispiel, ein Thema klassischer Kulturbigotterie, das männliche Intendanten mit traurigem Dackelblick gerne als dringend anerkennen und dann trotzdem nicht abstellen - seit Jahrzehnten wohlgemerkt.

Aber woanders ist nicht Anders. Am Schauspielhaus Hannover, wo sie jetzt ihre Saisoneröffnung gefeiert hat, wird gleich bezahlt, verspricht sie. Und auch gleich verteilt. Die Hälfte der Produktionen der ersten Saison verantworten Frauen, denen im deutschsprachigen Theaterbetrieb auch 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts immer noch die zweite Reihe vorbehalten ist, als Bühnen- und Kostümbildnerinnen, als Dramaturginnen und Leiterinnen des Betriebsbüros oder des Ticketservices.

Erst jeder fünfte Chefsessel am Theater ist ein Chefinnensessel. Mit Sonja Anders' Antritt nähert sich die Quote vielleicht dem Viertel an. Immer noch ungerecht. Wie so vieles, über das im Theater hitzig gestritten wird und das Sonja Anders nun verändert. Etwa die aus Identitätsdiskursen gewonnene Forderung, dass Institute in ihrer betrieblichen Zusammensetzung (vor allem auf der Bühne) die Vielfalt der Gesellschaft abbilden sollen. Das ist in Hannovers neuem Ensemble verwirklicht.

Es gibt schwarze Schauspielerinnen und Schauspieler, überhaupt viele Akteure mit Vorfahren aus anderen Ländern als Deutschland, und mit Alrun Hofert auch ein Ensemblemitglied mit einem körperlichen Handicap. Auf den Premierenfeiern des Eröffnungswochenendes legten zwei Dragqueens auf, die bei der Begrüßung besonders hervorgehoben wurden. An die ungelöste Flüchtlingskrise mahnt das leuchtende Euripides-Zitat "Lebe und rette" im Foyer. Und Entscheidungsfindung soll kollektiv und mit extrem flachen Hierarchien geschehen. Alles hier will so exemplarisch divers und fair sein, dass es schon ein klein wenig streberhaft wirkt, ja fast die Frage erweckt, ob hier vielleicht gerade zwei Orte verwechselt werden: das Theater, wo es im Kern um Talent und Kunst geht, mit einem Parlament, in dem sich im Idealfall die Zusammensetzung einer Gesellschaft abbilden sollte.

Wurde am Staatstheater Hannover also ein künstlerisches Team zusammengestellt nach der richtigen und noch viel zu wenig selbstverständlichen Maßgabe, dass körperliche Erscheinungen und kulturelle Hintergründe keinerlei disqualifizierenden Einfluss auf die Einstellung in einen künstlerischen Betrieb haben sollten? Oder hat Sonja Anders ein soziologisches Quotensystem der "richtigen" Repräsentation umgesetzt, das vielleicht auch der Beruhigung des schlechten Gewissens dient, zu lange nicht nach der Maxime gehandelt zu haben, dass jeder und jede im Kunstbetrieb die gleiche Chance haben sollte, sein Talent einzubringen?

Der Auftakt zeigt: Der schöne Sinn für Gerechtigkeit hat seine Sprache noch nicht gefunden

Die Frage wird sich nur auf lange Sicht bemessen lassen, wenn dieses Experiment mit dem Anspruch gerechterer Verhältnisse sich in Inszenierungen und Rahmenprogrammen beweist. Die ersten beiden nicht wirklich gelungenen Regiearbeiten können da noch nicht viel Aufschluss geben, weil es das Wesen aller Experimente ist, dass dabei zunächst eine Menge schiefgeht. So zeigte sich Stephan Kimmigs Verwandlung von Tschechows Stück "Platonow" in "Platonowa" erst einmal als recht krampfhafte Bemühung, divers zu sein.

Tschechows Figur des an Entschlusslosigkeit leidenden Provinztalents, das als Dorflehrer verkümmert, aber von den Frauen weiter angehimmelt wird, ist mit einer Frau besetzt (Viktoria Miknevich), sodass fortan gleichgeschlechtliche Beziehungen die Normalität auf dieser Bühne sind. Heterosexuelle Männer tragen Lippenstift und treten so auf, wie man es gemeinhin als "tuntig" bezeichnet (Nils Rovira-Muñoz), oder benehmen sich fortwährend "hysterisch" (Nikolai Gemel). Und die schwarze Ärztin Niko (Anja Herden) ist Teil einer weißen Familie. Alles kann, nichts muss. Was in diesem Fall bedeutet: Da diese Typenisolierung keine nachvollziehbaren Beziehungen und Konflikte herstellen kann, muss jedes Ensemblemitglied überengagiert laute Soloauftritte hinlegen.

Tatsächlich hat man selten weniger Ensemble gesehen als in diesem Reigen der Volldampf-Prätentiösen. Alles ist schon gleich da, nichts wird nachvollziehbar hergeleitet, keine Figur macht im Dialog mit anderen eine interessante Wandlung durch, die langsam ihr Rätsel entblättert. Das wirkt dann so, als ob Stephan Kimmig, der große Psychologe unter den deutschen Regisseuren, der wie kaum ein anderer noch auf die vorsichtige Deutungssuche des Charakters geht, hier einfach eine missglückte Vorstellungsrunde inszeniert hat.

"Zeit aus den Fugen", die eigentliche Saisonpremiere zwei Tage zuvor, krankte dagegen an grauer Homogenität und Aufklärung mit Politschablonen. Die Adaption eines Romans des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick erzählt von der Kulissenwelt einer inszenierten Kleinstadt der Fünfziger, die allein für einen Mann gebaut wurde. Ragle Gumm (Torben Kessler) wird darin in dem gesellschaftlichen Zustand seiner Kindheit konserviert, weil er so am besten darüber getäuscht werden kann, dass er Teil des Kriegs zwischen Erdlingen und Mondlingen außerhalb seiner Blase ist.

Diese später in dem Film "Truman Show" wiederkehrende Idee aus den Sechzigerjahren inszeniert Laura Linnenbaum nun in einer monochrom grauen Welt, wo alle wie Zombies aussehen, als dröge Klamotte. Jede Figur ist hier ein Klischee, die hölzerne Kommunikation und die naiven Gefühlsäußerungen entsprechen dem mangelnden Talent Philip K. Dicks, echte Menschen zu zeichnen (weswegen "Blade Runner" auch erst als Film ein Meisterwerk war, nicht aber Dicks Vorlage "Do Androids Dream of Electric Sheep?"). Am Schluss kommt dann die große Moralaufklärung in maximaler Vereinfachung, dass wir Menschen keine Mauern bauen, sondern bitte einreißen sollen. Leider sehr banal und bieder.

Der schöne Sinn für Gerechtigkeit, der den Neuanfang in Hannover exemplarisch machen soll, hat seine Sprache jedenfalls noch nicht gefunden. Ist vielleicht auch schwierig, wenn man die soziale Programmatik so weit nach vorne rückt, dass das Resultat zunächst Vorsicht und Kompromiss heißt - was aber mehr Ratschläge für das tägliche Miteinander sind als Impulse für solitäre Kunstwerke.

© SZ vom 20.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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