Theater:Einfach kompliziert

Theater: Tortenschlacht: Szene aus der "Großherzogin von Gerolstein" am Theater T, in der der Intendant Karl Sibelius die Titelrolle mitspielt.

Tortenschlacht: Szene aus der "Großherzogin von Gerolstein" am Theater T, in der der Intendant Karl Sibelius die Titelrolle mitspielt.

(Foto: Vincenzo Laera)

Wie steht es um das Verhältnis von Publikum und Theater in der Provinz? Eine Bestandsaufnahme aus Trier.

Von Gianna Niewel

Als die ersten Zuschauer im Großen Saal aufstehen, buhen, sich nach draußen zwängen und die Türen knallen, sind nicht einmal zwanzig Minuten vergangen. "Fidelio" war das Stück, das da in Trier lief. Im Untertitel: "Frei nach Beethoven". Schauspieler wälzten sich in Kunstblut, zückten Penisse aus Plastik, Kammermusik statt Orchester. Wenig Werktreue, eher Wucht. Die Lokalzeitung schrieb noch Wochen später von dem "Problemstück". Das Theater schien sich von seiner Stadt abgewandt zu haben.

Deutschlandweit kämpfen Stadttheater ums Überleben. Dessau klagt, Rostock, neuerdings auch Karlsruhe. Ihr Problem: Geldsorgen. Und die Frage, wie man das Gute, Wahre, Schöne erhalten kann, wenn man gegen Mietkosten, Tarifverträge und Honorare anzukämpfen hat. Wenn sich dann aber Stadttheater trauen, auf besondere Art gegen die Krise anzuspielen, dann wendet sich oft das Publikum ab. Wie verlässlich muss also ein Stadttheater sein? Wie flexibel darf es sein? Am Augustinerhof in Trier ringen Bühne und Bürger um diese Frage, seitdem Karl Sibelius dort Intendant ist - und die gewohnten Pfade verlässt.

Mit Karl Sibelius haben die Trierer ihre Probleme. Der Intendant macht alles anders

Sibelius sitzt in der Garderobe, er hat künstliche Wimpern angeklebt und die Wangen gepudert, Strumpfhose, Rüschenkleid, der Nagellack glitzert. Er spitzt die Lippen, Lippenstift sitzt, also los. Gleich gibt er die Großherzogin von Gerolstein. Er wird auf der Bühne herumstaksen, sich vier Mal umziehen, immer Kleider, er wird den General ficken, der Lokalzeitung eins mitgeben und den Trierer Theaterbau kommentieren. Zum Schluss wird er auf einem Kanonenrohr reiten, herunterfallen und liegen bleiben - der Krieg und die Politik und die Männer, das alles ist zu viel für ihn, die Großherzogin.

Sibelius hat diese Rolle, die exaltierte Diva aus der Operette von Jacques Offenbach, bereits im Theater an der Rott gespielt, im niederbayerischen Eggenfelden, wo er zuletzt Intendant war. Doch die Menschen waren nicht bereit, zwischen ihm und seinem Privatleben zu trennen. Sibelius, schwul, zwei Kinder, bekam Drohbriefe. "Schwuchtel" war eine der harmloseren Bezeichnungen.

Jetzt also Trier. Die neue Intendanz, die alte Rolle - und ähnliche Probleme.

Als der 46-jährige Österreicher im vergangenen Sommer an den Augustinerhof kam, da wusste er wenig über Trier. Nicht, dass es die älteste Stadt Deutschlands ist. Nicht, dass Karl Marx hier geboren wurde.

Das Theater hatte gerade Jubiläum gefeiert. Denn die Stadt hat zwar seit Jahrhunderten eine eigene Bühne, seit Mitte der Sechzigerjahre aber erst das heutige Haus, es ist ein verwitterter Klotz. Lange Zeit sollte er abgerissen werden, die drei Sparten gekürzt. Doch die Trierer protestierten. Jetzt wird das marode Gebäude wohl saniert. Ballett, Oper und Schauspiel bleiben.

Als Sibelius in die Stadt kam, hatten sich Bürger und Theater also gerade angenähert. Der Intendant: bekannt. Sein Spielplan: verlässlich. Die Schauspieler: blieben über Jahre. Sibelius und sein Schlachtruf "Alles bleibt anders" waren da eine Provokation für viele Trierer. Erst fanden sie ihn spannend. Dann wurde er ihnen zu viel.

Und so beäugten sie missmutig, wie er die Außenwand des Theaters von Künstlern besprühen ließ, Fantasiefiguren, "Refugees Welcome", in all dem Gewirr, hoppla, ein Penis. Man munkelte, dass Sibelius die Verträge der Schauspieler nicht verlängere. Er überließ es den Spartenleitern, wen sie weiter beschäftigen wollten. Und so blieben vom alten Ensemble nur zwei Schauspieler und der Generalmusikdirektor, das Orchester hatte für seinen Verbleib gekämpft.

Dass Verträge in dieser Branche selten über Jahrzehnte geschlossen werden, ist nichts Ungewöhnliches. Dennoch hat ein Intendant auch soziale Verantwortung. Die Trierer nahmen Sibelius übel, dass er die verletzt habe. Nach wenigen Wochen hatte das Theater sich bereits von der Stadt entfernt oder die Stadt sich von ihrem Theater, jedenfalls klaffte eine Lücke.

Sibelius wolle mit einer "Radikalkur" das Publikum "umerziehen", hieß es in Leserbriefen. Ein Grünen-Politiker sagte, er selbst habe als Stadtratsmitglied für Sibelius gestimmt. Nun müsse er einsehen, dass er sich "noch nie so getäuscht habe wie in der Besetzung der Intendantenstelle". Eine Frau schrieb nur eine Zeile: "So hat Shakespeare sich das nicht gedacht."

Als Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert ein Flickenteppich aus Fürstentümern war, bemühte sich jede Residenzstadt um eine eigene Bühne. Genau genommen: Die Bürger bemühten sich darum, denn oft waren sie es, die diese Theater finanzierten. Das ist der Grund, wieso das Land noch heute die größte Bühnendichte der Welt hat, 144 öffentlich finanzierte Häuser zwischen Kiel und Konstanz. Es ist auch der Grund, wieso die Bühnen mit den Bürgern so eng verflochten sind.

Für klassische Stadttheater gilt das umso mehr, als sie in der deutschen Provinz oft alternativlos sind; von Trier bis zum nächsten Theater nach Saarbrücken braucht der Regionalexpress mehr als eine Stunde. Entsprechend stark ist die Identifikation der Bürger mit ihrem Haus, entsprechend klar sind ihre Erwartungen.

Der alte Trierer Intendant sagte einmal, das Publikum hier sei "konservativ". Denn mutmaßlich gehen die Menschen in einer Stadt wie Trier mehr aus Bürgerstolz ins Theater. Deshalb müsse man an kleinen Bühnen behutsamer sein. Man spiele viel stärker für die Stadt. Silbelius sagt: "Nun ja." Denn natürlich wolle er mit seinem Theater niemanden ausschließen. Aber er habe auch keine Lust, sich anzubiedern, die Zuschauer zu unterfordern.

Wenn der Intendant eines Hauses wechselt, beginnt das Ringen um das richtige Maß an Nähe und Distanz zwischen Stadt und Theater immer wieder neu. Trier erlebt dieses Annähern und Abstoßen gerade auch deshalb so intensiv, weil hier ein neuer Intendant nicht nur anders inszeniert als sein Vorgänger. Sondern völlig anders. Sibelius setzt stärker auf internationale Regisseure, Stücke werden en suite aufgeführt, zwei Monate am Stück, dann sollen sie touren. Die Sparten verschmelzen.

Nun kann man darauf verweisen, dass Irritation und Provokation immer schon zur avantgardistischen Kunst gehörten. Dass sie in Trier sogar zu etwas Gutem geführt haben, weil nicht mehr nur über Geld, das Jahresbudget von etwa 15 Millionen Euro, gesprochen wird, nicht mehr nur über das marode Gebäude. Das Theater an sich ist wieder Thema in der Stadt.

Aber was hilft das, wenn nun weniger Menschen ins Theater gehen? Zuschauer, gerade Abonnenten, sind die Säulen jedes Hauses. Als im Winter vier Karteninhaber kündigen wollten, zwei explizit wegen Sibelius, rief der sie an und lud sie ein. Sie saßen sich also in seinem Büro gegenüber und redeten darüber, was sie stört und was er sich erhofft. Alle vier, sagt Sibelius, hätten ihr Abo behalten. Er mag eigen sein, der Intendant, der auch spielt und singt und ab und an Regie führt. Aber es schien, als habe er dazugelernt. In der nächsten Spielzeit etwa will er dem Publikum entgegenkommen; die Schauspieler sollen weg von der Performance-Ästhetik, klassischere Stücke, klassischer inszeniert.

Der Schritt eines Intendanten auf die Stadt zu, das ist nur ein Teil. Der zweite: die Geduld der Bürger, Vertrauen auch. Vertrauen darin, dass sich eine kleine Bühne ausprobieren darf. Dass vielleicht eine Inszenierung floppt. Auch ein Stadttheater verliert nicht gleich seine Berechtigung, wenn es schlecht gefunden wird.

Am Theater läuft gerade ein sehr schönes Stück, "Wovor hast du eigentlich Angst?" Drei Zuschauer sitzen auf dem Rücksitz eines Autos, gesteuert von einem Schauspieler vorne, eine Art Road-Theater. Wenn die Zuschauer einsteigen und der Wagen vom Hof rollt, wissen sie wenig darüber, was sie erwartet, weil die Schauspieler während der Fahrt mitunter improvisieren. "Wovor hast du eigentlich Angst?" ist ein Pakt der Schauspieler mit den Zuschauern, es ist auch ein Versprechen. Wir rasen gemeinsam durch die Stadt. Wir bringen euch sicher zurück. Intimer kann Theater kaum sein. Näher kann ein Theater einer Stadt kaum kommen. Und siehe da: Die Zuschauer sind begeistert.

Nach dem neuesten Fiasko gibt ein Lokalpolitiker Sibelius nur noch eine "Galgenfrist"

Alles gut? Mitnichten. Um die Finanzierung des Spielplans wird noch gerungen, und darum, welcher Theatermacher wie viel verdient. Eine Künstlervereinigung legte dem Intendanten mehrere Fragen zur Beantwortung vor, eine Art Vorhalt. Ob Arbeitsgerichtsprozesse mit mehreren Mitarbeitern des Hauses laufen? Ob er Verantwortliche abgemahnt habe? Solche Sachen. Doch im Grunde geht es - mal wieder - nicht nur um Haushaltsdefizit und Zuschauerschwund. Sibelius wollte 2017 "Die rote Wand" aufführen, ein Stück über Tanja Gräff. Die Trierer Studentin war 2007 nach einer Party verschwunden, die ganze Stadt fahndete nach der 21-Jährigen. Jahrelang. Im Mai vergangenen Jahres wurde ihre Leiche dann bei Rodungsarbeiten gefunden. Wie die junge Frau ums Leben kam, bleibt ungeklärt. Der Fall Tanja Gräff ist also heikler Stoff, jeder Trierer hat dazu eine Meinung, keinen lässt er kalt. Dass Sibelius das als Schauspiel auf die Bühne hieven wollte: mutig. Doch dann musste er zurückrudern. Die Mutter von Tanja Gräff war nicht einverstanden.

Sibelius berief sich auf seinen Schauspielchef Ulf Frötzschner, dieser habe ihm Gegenteiliges gesagt, er habe sich auf dessen Informationen verlassen müssen. Manche sagen: Sibelius versteckte sich hinter seinem Spartenleiter. Fakt ist, dass er, der Intendant, mit der Mutter selbst nie geredet hat. Sibelius nennt das im Nachhinein einen "Fehler". Anfang dieser Woche kam die Nachricht, Frötzschner sei nicht mehr im Amt, man gehe getrennte Wege. Ein Lokalpolitiker spricht nun von einer "Galgenfrist" für den Intendanten. Und schon sind Nähe und Distanz wieder ein Thema in der Stadt - mehr vielleicht als je zuvor.

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