Theater:Ein Dilemma, moralisch wie dramatisch

Terror

Die Traumprojektionen eines verunsicherten Piloten: Timo Weisschnur als Angeklagter Lars Koch in der Uraufführung am Deutschen Theater Berlin.

(Foto: Arno Declair)

Ferdinand von Schirachs erstes Theaterstück, "Terror", wurde uraufgeführt.

Von PETER LAUDENBACH

Dieses Theaterstück ist von altmodischer Art. Ein Stück, das von Performance-Moden und dem üblichen Ironie-Zwang nicht angekränkelt die Bühne als Verhandlungsort und Versuchslabor für die großen moralischen Fragen versteht. Zum Beispiel für die Frage, ob es so etwas wie einen moralisch gebotenen Mord gibt. Oder für die entweder mit Zynismus oder überhaupt nicht zu beantwortende Frage, wie viel ein Menschenleben wert ist.

Der Strafverteidiger und Bestseller-Autor Ferdinand von Schirach spielt in seinem Debüt als Dramatiker ein moralisches Dilemma durch. Er versetzt seinen Protagonisten mit geradezu sadistischer Raffinesse in eine Konfliktsituation, gegen die eine Rattenfalle wie ein gemütlicher Ort wirkt. Er hat keinen Ausweg, der ohne Verletzung grundlegender moralischer Prinzipien möglich wäre. Jede Handlungsalternative ist verwerflich. Gleichgültig, wie er sich entscheidet, er wird zum Mörder.

Der abgründige Moralist Ferdinand von Schirach untersucht die Frage, was wichtiger ist: Das nicht zu widerlegende, nicht verhandelbare Prinzip (etwa der erste Satz des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar, oder das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten), oder die Option für das kleinere Übel, das viele Menschenleben rettet - in diesem Fall die 70 000 Besucher der ausverkauften Allianz-Arena in München. Verhandelt wird der fiktive, aber mögliche Fall eines Luftwaffen-Piloten, der sich entscheiden muss, ob er ein von einem Selbstmordattentäter gekapertes Lufthansa-Flugzeug auf dem Weg von Berlin nach München mit einer Luft-Luft-Rakete abschießt - oder ob er es zulässt, dass die Maschine in das ausverkaufte Fußballstadion stürzt. Was ist wertvoller, die Leben der 164 Flugzeug-Passagiere oder die der 70 000 Besucher eines Münchner Fussballspiels?

Man könnte auch sagen, der Jurist von Schirach verhandele den Anwendungsfall des 2005 vom Bundestag beschlossenen und ein Jahr später vom Bundesverfassungsgericht verworfenen Luftsicherheitsgesetzes.

Mit der Direktheit des um postmoderne Trends unbekümmerten Theater-Novizen setzt von Schirach die Bühnen-Situation mit einer Gerichtssaal-Situation in eins: Die Zuschauer werden zu Schöffen, die den Fall zu entscheiden haben. Die Reden von Staatsanwältin, Verteidigerin, Angeklagtem und Richterin richten sich ans Publikum wie an die bürgerliche Öffentlichkeit, die sich über ihre Prinzipien verständigen muss. Die Gerichtsverhandlung und der Moral-Diskurs findet im Dienst ihrer Urteilsbildung statt. Das ist eine plumpe Konstruktion, aber sie funktioniert. Vor allem ermöglicht sie es, die Bühne als moralische Anstalt zu nutzen, in der die Gesellschaft ihre drängenden, ungelösten und vielleicht nicht lösbaren Fragen von allen Seiten beleuchtet.

Das erfolgreichste Werk der Saison: Als wäre Friedrich Schiller als Dramatiker zurückgekehrt

Kein Wunder, dass die Theater geradezu gierig nach diesem Stoff greifen - als hätte ihn ein Friedrich Schiller der Gegenwart geliefert! Was das Stück so attraktiv macht, ist, dass von Schirach das Theater ganz altmodisch als Plattform einer moralischen Auseinandersetzung ernst nimmt, in der die Einfälle eines Regisseurs von allenfalls untergeordneter Bedeutung sein dürfen. Zur großen Qualität seines Textes gehört die Fairness den Figuren gegenüber: Das Moral-Dilemma des Bundeswehr-Offiziers wird ernst genommen. Entgegen der so naiven und selbstgefälligen wie im Theater beliebten "Soldaten-sind-Mörder"-Klischees weiß von Schirach, dass die Bundeswehr zu unserem Schutz notwendig ist und nicht von durchgedrehten Rambos geführt wird. Die menschliche und professionelle Integrität des Offiziers, der entgegen dem ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten entscheidet, die entführte Lufthansa-Maschine sei abzuschießen, steht nicht in Frage, im Gegenteil. Sie ist die Voraussetzung der Fallhöhe des verhandelten Konflikts.

Nach der Doppel-Uraufführung am Schauspiel Frankfurt und am Deutschen Theater Berlin am vergangenen Samstag werden allein in dieser Saison mindestens vierzehn Bühnen das Stück nachspielen. Oliver Berbens Produktionsfirma will den Stoff verfilmen. Damit dürfte Ferdinand von Schirach der erfolgreichste Dramatiker dieser Spielzeit sein. Nur ist er leider kein Dramatiker. Sondern in diesem Text ein ungemein kluger Rechtsgelehrter, dessen Figuren als Thesenritter und Argumentations-Lautsprecher die möglichen Rechtsstandpunkte ebenso scharfsinnig wie abstrakt vortragen. Die große Kunst des Prosa-Autors von Schirach, die Lakonie und zynismusfreie, sozusagen warmherzige Unsentimentalität seiner Erzählungen, weicht hier einem Rechthabersound: Die Bühnenfiguren neigen zum ausgiebigen Dozieren im Frontalunterrichtsstil und freilaufender Juristen-Rhetorik.

Die Regie kann sich leider nicht zurückhalten: Video-Effekte wie aus einem Drogentrip

Die Berliner Uraufführung in der Regie von Hasko Weber verstärkt die Schwächen des Stücks fatal. Als würde er der dokumentarischen Nüchternheit des Textes mit seiner liebevoll vorgeführten Kenntnis der bürokratischen Abläufe misstrauen, setzt der Regisseur auf äußerliche und unnötige Effekt-Huberei - er tut genau das, was in diesem Stück nicht sein darf. Die klare und für die gesamte Versuchsanordnung notwendige Gerichtssaal-Konstruktion wird zugunsten von Pop-Scherzen aufgelöst. Als würden wir die Alpträume des angeklagten Luftwaffen-Piloten (so schnittig wie oberflächlich: Timo Weisschnur) besichtigen, werden immer wieder psychedelisch anmutende Grafikanimationen auf die Bühnenrückwand projiziert (Video: Daniel Hengst). Da stapeln sich wie in einem aufgeblähten MTV-Video aus den Neunzigern blutrote Aktenordner. Raketen, Flugzeuge und Spielzeugpuppen wirbeln vorbei, die Gesichter der Richterin (Almut Zilcher) oder der Staatsanwältin (Franziska Machens) mutieren zu monströs vergrößerten Fratzen. Man fragt sich, welche Psychodrogen dem armen Angeklagten ins Gefängnisessen gemischt wurden. Im Interesse der Oberflächeneffekte streicht die Regie auch all die bürokratischen Umständlichkeiten, die im Sinne von Luhmanns "Legitimation durch Verfahren" den Text so anschaulich wie leicht absurd machen. Als würde das nicht genügen, muss Almut Zilcher als vorsitzende Richterin einen albernen Gehrock tragen, als wäre sie nicht im Dienst der Rechtspflege, sondern als Zirkusdompteurin tätig.

Die Schlusspointe ist raffiniert und konsequent. Die Schöffen, also die Zuschauer, müssen entscheiden, ob der Angeklagte des 164-fachen Mordes für schuldig befunden oder freigesprochen wird, weil er nur durch den Abschuss des Flugzeugs dessen Explosion in der Allianz-Arena verhindern konnte. Der Jurist Ferdinand von Schirach bietet für beide Entscheidungen überzeugende Urteilsbegründungen an. Damit treibt er die Aporie seines Gedankenexperiments auf die Spitze: Wenn beide Urteile, der Freispruch wie die Verurteilung wegen Mordes, glasklar zu vertreten sind, führt der Prozess nicht zu einer Klärung, sondern zurück auf seinen Ausgangspunkt: also ein nicht auflösbares moralisches Dilemma.

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