Theater:Der Zahnarzt

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Über alles gibt es Theaterstücke, was bisher fehlte, war: der Zahnarzt. Diese schmerzhafte Lücke wird jetzt endlich geschlossen.

Von Christine Dössel

Der Arzt als Allgemeinmedikus hat in der Dramengeschichte durchaus einen Stand. Man denke an den Dottore in der Commedia dell'arte, die ärztlichen Hausfreunde in den Stücken Tschechows oder an explizite Medizinerdramen wie Shaws "Arzt am Scheideweg" oder Schnitzlers "Professor Bernhardi". Wo aber bleibt der Zahnarzt? Der Dentist spielt im Theater als Protagonist keine Rolle, da gibt es eine Lücke. Dabei hätte er als jemand, den man urängstlich mit Schmerzen und Folterszenen verbindet ("Der Marathon-Mann"!), echtes dramatisches Potenzial. Dies erkennend, hat der junge Autor und Regisseur Alexander Eisenach in seinem Stück "Die Entführung Europas", zu sehen im Kleinen Haus des Berliner Ensembles, mit Aplomb eine fette Zahnarztrolle eingebaut. Zur Erklärung heißt es im Text, frei nach Heiner Müller: "Der Zahnarzt ist die Figur des 21. Jahrhunderts. Die Sehnsucht nach weißen Zähnen. Gesundheit. Eins sein mit sich. Der Körper eine funktionierende Maschine im Kampf mit der Welt."

Der Mann heißt Jupiter Kingsby und ist nicht nur Zahnarzt, sondern auch Immobilienhai, Investor, Vorsitzender eines ominösen Syndikats, Kunstliebhaber und verheiratet mit der auf rätselhafte Weise verschwundenen Europa. Der grandiose Peter Moltzen (Foto) spielt ihn als hochnotkomisch-neurotischen Kieferpsychopathen mit philosophisch-intellektuellem Überbiss. In einem größtenteils improvisierten Hassmonolog auf Video hantiert er derart irre mit Zangen und beschimpft seine aus dem Mund stinkenden Kassenpatienten, "diese Wichser", dass es zum Brüllen ist. Hinreißend auch, wenn er in einer Dinner-Szene mit Kathrin Wehlisch die Berliner Schlossfassade verteidigt und einen Gaga-Diskurs à la Pollesch hinlegt: "Dieses Hühnchen hier, das steht doch für nichts. Das schmeckt einfach lecker und fertig. Aber Du musst da gleich wieder eine Erzählung draus machen..."

Der Dentist ist der Reißzahn und Hauptverdächtige in einer tollkühnen und wirklich auch sehr geistreichen Geschichte, erzählt im Stil eines Crime Noir. Der ermittelnde Privatdetektiv im Zentrum heißt Max Messer (Christian Kuchenbuch), so lautete dereinst ein Pseudonym von Heiner Müller, der an diesem Abend viel zitiert wird. Die Suche nach Europa führt bis in den Kongo, ins Herz der Finsternis, und ist auch eine schmerzhafte Wurzelbehandlung.

© SZ vom 18.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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