"Theater der Welt" in Mannheim:Wir setzen eins drauf

Theaterstück Die Schutzbefohlenen

"Die Schutzbefohlenen:" kopfgesteuertes, pflichtironisches Diskurstheater auf der Höhe aktueller Migranten- und Rassismus-Debatten.

(Foto: dpa)

Das Festival "Theater der Welt" startet mit einem neuen Stück von Elfriede Jelinek zur Flüchtlingsfrage. "Die Schutzbefohlenen" sind ein wichtiges, ein wütendes Stück. Auch ein schwieriges, das in der Inszenierung von Nicolas Stemann lange nicht in Fahrt kommt. Und trotzdem sind damit schon mal Zeichen gesetzt.

Von Christine Dössel

Nein, das Festival "Theater der Welt" in Mannheim begann nicht mit einem "Eklat", wie teilweise im Internet zu lesen war. Die Eröffnungsrede des Netzaktivisten Jacob Applebaum, in der dieser sich vom Henri-Nannen-Preis distanzierte, taugt nicht zum Skandal. Henri Nannens NS-Vergangenheit ist bekannt.

Applebaum, enger Vertrauter von Edward Snowden und Julian Assange, hat da nichts Neues aufgedeckt, kam für sich jedoch zu dem Schluss, Nannen für einen Hitler-"Schönfärber" und Nazi-"Propagandisten" zu halten - ein "Mitgestalter", "nicht nur ein Mitläufer". Weshalb er sich schäme, einen nach ihm benannten Journalistenpreis angenommen zu haben.

Diesen Preis, den er eine Woche zuvor erhalten hatte - für die Mitaufdeckung des NSA-Lauschangriffs auf Angela Merkels Handy -, gab Applebaum, der junge Amerikaner jüdischer Herkunft, nicht etwa protestierend zurück. Vielmehr verkündete er, die Preisskulptur - eine Metallstatue von Nannens Kopf - einschmelzen und einen anderen Symbolkopf daraus formen zu lassen, einen der für investigativen Journalismus stehe: Anonymus, "die anonyme Quelle".

Großer Applaus. Aber der Aufreger, den Applebaum sich erhofft haben mochte, blieb aus. Was nicht heißt, dass sein Festival-Auftritt nicht als Aufforderung zu einer politischen und moralischen Positionierung verstanden worden wäre.

Damit waren die Weichen gestellt, oder in diesem Fall besser: die Schleusen geöffnet für die Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück "Die Schutzbefohlenen" - ein drängendes, (ein)dringliches Textkonvolut, in dem die österreichische Literaturnobelpreisträgerin die Flüchtlinge vor den Toren Europas zu Wort kommen lässt.

In einem polyphonen "Wir"-Chor pochen sie an unsere Festung des Humanismus, des Wohlstands und der Demokratie, pochen auf Teilhabe, Anerkennung, Menschenwürde. Jelinek schenkt ihnen, die keine Sprache und keine Fürsprecher haben, ihren Sound, ihre Wortspiele und kalauernden Gedankenloops. Der assoziative Textstrom ist Totenklage genauso wie Anklage und Befund: "Wir sind und werden keine Bürger, wir haben auch keine Bürgen, wir haben nichts . . ."

Fieses Lied gegen Ausländer in der U-Bahn

Die Autorin verschränkt hier die Flüchtlingskatastrophe vor der Küste Lampedusas mit den Ereignissen vom Herbst 2012 in Wien, als hundert Flüchtlinge die Votivkirche besetzten. Dabei rekurriert Jelinek sprachlich auf Aischylos' Drama "Die Schutzflehenden".

Das gibt der Zeitungsfaktenbasis dieses in vieler Hinsicht banal-realen Textes einen antikischen Ton - und jenen tieferen Grund, aus dem "Die Schutzbefohlenen" ihre todesschwarz literarische Kraft beziehen. Natürlich bleibt so ein Text hinter der Wirklichkeit der Leichen im Mittelmeer zurück. Und doch gut, dass es ihn gibt. Dass eine sich traut - und dem Theater so viel moralischen Einspruch zutraut.

Jelinek ist die politischste, für die Katastrophen der Gegenwart empfänglichste Dramatikerin unserer Zeit. "Die Schutzbefohlenen" sind ein wichtiges, ein wütendes Stück. Auch ein schwieriges.

Routiniert nicht-darstellerisches Vorlesen

Schwierig zu spielen. In der Uraufführung von Nicolas Stemann, einer Produktion des Hamburger Thalia Theaters, sieht man ganz klar die Political-Correctness-Probleme und Bedenken, die den Regisseur und sein Team umgetrieben haben.

Sie stellen diese überdeutlich aus, wollen ihrem Unbehagen Rechnung tragen und bloß nichts falsch machen, gehen permanent auf Distanz zum Text, den Stemann, wie immer, vom Blatt lesen lässt.

Können/dürfen wir für diese Menschen überhaupt sprechen? Diese Grundfrage bremst Stemanns sonst so produktiven Jelinek-Furor derart, dass die Inszenierung lange nicht in Gang kommt und keine Haltung einnimmt, sondern ganz viele durchprobiert.

Auf roten Plastiksitzen im Hintergrund nehmen nach und nach immer mehr Menschen Platz, zwei Dutzend Mannheimer Asylbewerber und Migranten. Derweil lesen sich vorne die Thalia-Schauspieler Sebastian Rudolph, Felix Knopp und Daniel Lommatzsch abgefuckt gelangweilt und routiniert nicht-darstellerisch durch die Seiten.

Deutsche Schauspieler betreiben ihr kopfgesteuertes, pflichtironisches Diskurstheater auf der Höhe aktueller Migranten- und Rassismus-Debatten.

Das Trio wird nach einer Weile unterstützt und partiell auch verdrängt durch zwei farbige Schauspieler, einen Mann (Ernest Allan Hausmann) und eine Frau (Thelma Buabeng), die selbstbewusst ihren Teil des Textkuchens beanspruchen.

Eventuelle Blackfacing-Vorwürfe werden dadurch ausgehebelt, dass die Schwarzen sich weiß und die Weißen sich schwarz anmalen, und alle gemeinsam singen sie ein fieses Lied gegen Ausländer in der U-Bahn. Da bekommt die Inszenierung etwas von jener Perfidie und auch Empathie, vor der Stemann sich lange drückt.

Es ist die großartige Barbara Nüsse, die den Abend dann auch sprachlich verankert. Wenn sie spricht, hört man einen Menschen sprechen, und man hört die musikalisch-poetische Sprachkraft Jelineks, Nüsse zeigt, dass man darauf bauen kann.

Jesus an Schnüren in der Luft

Im Laufe des Abends verwandelt sich die Bühne in die Sicherheitszone Europa, ein Zaun wird hochgezogen, der Wachturm ist eine Kirchenkanzel, ein Jesus baumelt an Schnüren in der Luft. Die Statisten drängen nach vorne, Afrikaner, Araber, Asiaten. Sie geben Statements ab in ihrer Sprache, werden mit Hilfspaketen bombardiert, um am Ende wie tot dazuliegen, von Handkameras abgefilmt: Gesichtslose. Untergegangene.

Im Videomeer-Todesszenario am Schluss ist Stemann in seinem Element. Böse der Auftritt einer lebensgroßen Designertasche nebst Ölfass und Diamant: Sie winken fröhlich, sie dürfen bleiben. Anna Netrebko auch. Dafür wird den toten Flüchtlingskindern ein "Bärli-Song" gewidmet, inspiriert von den kleinen Teddybären, die die Kindersärge von Lampedusa schmückten: "Wir setzen noch eins drauf."

Bombastische Ausstattungs-Parade

Ein Festival mit Produktionen aus aller Welt mit Jelineks anklagendem Flüchtlingschororatorium zu beginnen, ist vom Kurator Matthias Lilienthal eine klare Ansage. Der Anschluss mit "Tararabumbia" aus Moskau offensichtlich auch: nach dem Flüchtlingsdrama das Spektakel. Es ist eine bombastische Ausstattungs-Parade des russischen Regisseurs Dmitry Krymov, in der 105 Darsteller auf einem 30 Meter langen Transportband in immer neuen Kostümen und Verwandlungen (und fast ganz ohne Text) Tschechows Welt darstellen.

Emblematische Figuren, Szenenausschnitte, lebende Bilder. Stelzenfrauen, Soldaten, 22 Trigorins. Es ist opernhaft, zirkushaft, schwelgerisch-kitschig. Mit witzigen, kritischen Details, das schon. Aber insgesamt doch eine Nostalgie-Revue, die immer mehr zur UdSSR-Landesparade wird. Im Publikum Jubel: Das kommt an.

Dass Lilienthal, der Apologet einer avancierten Performing-Arts-Szene, diese propere Schau eingeladen hat, ist erstaunlich. Er sagt: "Ich mache dieses Festival für Mannheim, nicht für eine Insiderszene. Ich möchte eine Stadt auch umarmen und bombe nicht meinen Geschmack durch." Für alle Münchner, die Lilienthal, den zukünftigen Kammerspiele-Intendanten, als Stadttheater-Atheisten fürchten, ist das erst mal eine beruhigende Nachricht.

"Theater der Welt" zeigt auch sonst ganz gut an, worauf München sich gefasst machen kann. Auf den Regisseur Toshiki Okada aus Tokio etwa, dessen Stück "Super Premium Soft Double Vanilla Rich" in Mannheim uraufgeführt wurde.

Es spielt in einem Convenience Store, einem dieser 24-Stunden-Supermärkte, die prägend sind für das Konsum- und Alltagsleben in Japan. Zwei Stoffvorhänge mit Abbildungen von Ladenregalen rahmen die leere Spielfläche. Sieben Schauspieler erzählen in der Rolle von Kunden, Verkäufern und Chefs eine simple, aber menschlich anrührende Geschichte von Hierarchie, Abhängigkeit und sozialer Kommunikation auf der Basis eines allumfassenden Kapitalismus.

Sie tun das extrem gemächlich, aber mit einer expressiven, psychologisch verräterischen, der Etikette ihres höflichen, förmlichen Auftretens meist zuwiderlaufenden Körpersprache: schlenkernde Arme, zuckende Beine, Rumpfverrenkungen. Das hat eine sehr feine, subversive, auch traurige Komik. Als Muzak läuft dazu in zermürbender Kaufhausmusik-Dröhnung Bachs "Wohltemperiertes Klavier".

Seinsfragen an einem Abend, der unspektakulär daherkommt

Ein Musterbeispiel für das, was Lilienthal künstlerisch am Herzen liegt, ist das Stück "Riding on a Cloud" des Libanesen Rabih Mroué. Sein Bruder Yasser wurde im Bürgerkrieg durch eine Kugel so schwer im Hirn verletzt, dass er nicht mehr richtig sprechen kann. Er kann Dinge erkennen, aber nicht deren Abbildung. Ein Arzt riet ihm deshalb, Videofilme zu drehen.

Damit spielt dieser zutiefst persönliche, erkenntnistheoretisch humane Abend, der völlig unspektakulär wie eine private Video-Lecture-Performance daherkommt, und doch ungeheuer vertrackt und existenziell ist in der Art, wie er Wahrnehmung hinterfragt und Seinsfragen stellt. Am Ende spielen die Brüder gemeinsam Gitarre, zart und herzberührend: Rabih schlägt die Saiten, der rechtsseitig gelähmte Yasser greift mit links die Akkorde. Ein Bild, das bleiben wird.

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