Süddeutsche Zeitung

Theater:Die ganze Welt in Düsseldorf

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Bemerkenswert emotional: Das Festival "Theater der Welt" startet endlich. Und das Warten hat sich gelohnt.

Von Martin Krumbholz

Den Gesang der Sirenen hätte man, idealerweise, auf dem eigenen Balkon hören sollen, sechs Minuten lang. Die herrliche, 18-teilige, von einem australischen Trio komponierte, nur aus weiblichen Stimmen bestehende Klanginstallation "Siren Song" sollte mittels eines Hubschraubers wie göttliches Manna über die ganze Düsseldorfer Innenstadt ausgeschüttet werden - jede Bürgerin, jeder Bürger sollte sich eingeladen fühlen zum "Theater der Welt". Das hat, aus technischen Gründen, am Eröffnungstag noch nicht geklappt. Und doch war das feierliche Opening des um mehr als ein Jahr verschobenen Festivals von bemerkenswerter Emotionalität.

Alle drei Jahre, seit 1981, findet das vom Internationalen Theaterinstitut veranstaltete Treffen der spannendsten Kompanien aus aller Welt normalerweise statt, immer an einem anderen Ort. Für den Mai 2020 hatte Programmdirektor Stefan Schmidtke alles hübsch eingetütet, dann schlug die Pandemie zu. Nicht alle damals eingeladenen Produktionen können auch 2021 gezeigt werden, aber stattlich ist der Spielplan gleichwohl. Zweieinhalb Wochen pralles, sinnliches Theater in der rheinischen Metropole, da kamen dem Intendanten Wilfried Schulz, eben erst einem mittelschweren Rassismuseklat am eigenen Haus entronnen, fast die Tränen, und seinem Kurator ebenfalls. Das Schauspielhaus, hygienekonzepttechnisch nur zur Hälfte gefüllt, schien die Vorfreude förmlich auszustrahlen. Ja, es war ein erhabener Moment: Damen und Herren, wir schalten um nach Kapstadt!

Denn auch das dortige Baxter Theatre konnte mit seiner ursprünglich als Koproduktion mit Düsseldorf geplanten Arbeit "Leben und Zeit des Michael K.", nach dem Roman des Südafrikaners J.M. Coetzee, nicht anreisen. Stattdessen: eine live gestreamte Premiere. Und hier hat alles geklappt. Action in Kapstadt, Publikum in Düsseldorf. Das hat es womöglich noch nie gegeben: eine Aufführung, deren Mitwirkenden über einen Kontinentalsprung von 9500 Kilometern hinweg applaudiert wird. Unbedingt hätte man diese Situation, den transkontinentalen Applaus, noch länger auskosten sollen, statt gleich die Credits einzublenden.

Erfreulich, dass sich so viele Programmpunkte des Festivals erstmals (auch) an Kinder richten

Sei's drum: Die Eröffnungspremiere war anrührend. Coetzee, der Nobelpreisträger von 2003, erzählt in seinem 1983 erschienenen Roman in einer nüchternen, chronikartigen Sprache von einem schwarzen Parzival, der in einer von Feindseligkeit geprägten Umwelt herumgeschubst und gedemütigt wird. Michael K. wird von einer etwa einen Meter hohen, von drei Spielern geführten Puppe aus Holz verkörpert: Die (weiße) Regisseurin Lara Foot bedient sich der Mitwirkung der formidablen Handspring Puppet Company - ein geeignetes Mittel, die Grenzen des Naturalismus zu sprengen. Wann genau sich die Geschichte ereignet, bleibt nämlich undefiniert: Das Terrorregime der Apartheid (die 1994 endete) ist im Hintergrund spürbar, spielt aber nicht die Hauptrolle. Lara Foot lenkt den Blick eher auf die Emanzipation des Manns mit der Hasenscharte (diesen Umstand erwähnt Coetzee gleich im ersten Satz), der, meist ohne einen Cent in der Tasche, ohne amtlich beglaubigte Identität, den feindlichen Umständen immer noch das Beste abgewinnt, so wenig es auch sein mag.

Es sind wunderschöne Bilder, die hier gelingen; die Humanität, die Großzügigkeit und die klare Botschaft des Abends überwiegen die ästhetischen Feinheiten oder gar innovativen Ehrgeiz. Für "Archipel", das Angebot des zweiten Festivaltags, gilt gewissermaßen das Gegenteil. Nicht, dass diese beeindruckende Kreation keine Botschaft hätte - irgendetwas mit "Transformation" -, aber das Überwältigende des ursprünglich für die (ausgefallene) Ruhrtriennale 2020 erarbeiteten "Spektakels" gleich mehrerer junger Kompanien liegt in einer Sinnlichkeit, die eben nicht unmittelbar lesbar, sondern erlebbar sein will. Die Komposition von Brigitta Muntendorf, die Choreografie von Stephanie Thiersch, die florale Skulptur von Sou Fujimoto, die 21 Tänzer und Musikerinnen furios bespielen, summieren sich zu einem Klangkörper im buchstäblichen Sinn. Ein unfassbarer Sog entsteht etwa, wenn die weiß gewandeten Künstler ihre (klassischen) Instrumente beiseitelegen und eine aus nur drei Tönen bestehende Vokalsequenz in einen Dauer-Loop überführen. Das saunamäßige Klima in der Nebenspielstätte "Central" ist kaum erträglich, aber man vergisst es (fast) angesichts der betörenden Suggestivität dieses Ereignisses, dem das Wort "Spektakel" keineswegs genügen will.

Das Theater für Heranwachsende des Niederländers Jetse Batelaan hat schon fast Kultstatus. Und dass so viele Programmpunkte des Festivals sich erstmals (auch) an Kinder richten, ist ohnehin erfreulich. Batelaan hat es sich zum Ziel gesetzt, mit Charme und Witz, ohne zu didaktisch zu sein, das Sensorium junger Zuschauer für das "Making-of" der Stücke zu schärfen. Methodisch gehören dazu abrupte Sprünge auf die Metaebene - und, sozusagen im ästhetischen Salto mortale, zurück in die Fiktion. Batelaan kann das, er hat es oft bewiesen. "Die Geschichte von der Geschichte" überzeugt allerdings weniger. Viel zu langsam schält sich an diesem Abend die Pointe heraus, die zudem recht dünn ist: Die "Geschichte" entpuppt sich als lebendes Wesen, das sich nicht etwa bei Rossmann oder beim Bäcker Hinkel einschleicht, sondern - haha - im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Cristiano Ronaldo, eine Viertelstunde vor der Premiere noch fußballerisch aktiv, scheint als überdimensionale Pappfigur auf, nebst einem Trump, den man doch endlich vergessen glaubte. Viel Eindruck schindendes Beiwerk, kein "roter Faden": ein Umstand, den Batelaan kokett selbst beklagt, was die Sache aber nicht besser macht. Schade, denn eine wirklich inspirierende Performance für junge Menschen hätte den Auftakt des wunderbaren "Theaters der Welt" noch unwiderstehlicher glänzen lassen.

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