Peng! Emilie erklärt sich. "Der Gedanke an Sex lockt mich noch, aber die Umsetzung schreckt mich ab." In dicken Lettern wird ihr Name projiziert, ihr Gesicht, und die Schauspielerin Maja Beckmann ranzt die schlechte Laune ihrer Figur als Verlautbarung ins Publikum. Ihr Körper ist so ausstaffiert, dass er nach allen Richtungen ausbeult. Noch lustiger ist das, was sie sagt. Denn schlechte Laune ist auf der Bühne meistens lustig. Emelie spielte mal Bass in einer Band, jetzt ist sie Lehrerin und geht aus dem Leim. Wie jeder und alles hier. Willkommen in der Welt von Vernon Subutex, in Szene gesetzt von Stefan Pucher im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele.
Ende vergangenen Jahres erschien der dritte und letzte Teil von Virginie Despentes' Romanreihe "Das Leben des Vernon Subutex" auf Deutsch. Im Februar kam der Stoff zum ersten Mal auf die Bühne, im Neumarkt-Theater Zürich. Nun folgen die Kammerspiele. Beide Aufführungen haben den Titel und die Materialgrundlage gemeinsam. Sonst nichts.
Pointierte Porträts sind mit Coolness und Unsinn verwoben
Das wilde Leben ist vorbei, der Rock'n'Roll durch den Markt kaputt gemacht, die Pornoindustrie ebenso. Und Vernon hat seinen Plattenladen verloren. Um das Ende aller Illusionen gesellschaftlicher Randfiguren zu erzählen, braucht Despentes 1200 Seiten, die keiner kohärenten Struktur folgen. Sie kann kein durchkomponiertes Epos gestalten, sie entwirft viele Miniaturen, stellt 20, 30 Figuren vor, von denen in München 15 auf der Bühne und drei in Videos auftauchen. Die einzelnen in sich bösen und pointierten Porträts klebt Despentes mit einem Kit aus Unsinn, Krimihandlung und Coolness zusammen, den Pucher weitgehend wegkratzt. Wohnte man in Zürich einem rasanten, lässigen, anrührenden Abstieg bei, ist man in München gleich am Bodensatz verschwundener Hoffnungen und deren diskursiver Aufarbeitung angelangt.
Zu Beginn sieht man das Video des toten Superstars Alexandre Bleach, um das sich die Krimihandlung rankt und das in der Romantrilogie wie ein großes Geheimnis behandelt wird, aber Stefan Pucher mag keine Rätsel. Also sieht man Abdoul Kader Traoré im Video-Bild, und mit seinen Worten ist alles gesagt: "Der Traum, der uns heilig war, wurde zur Pissfactory." Damit könnte man den Abend auch gleich beenden, denn Wesentliches kommt inhaltlich nicht mehr hinzu, allerdings entgingen einem dann einige schauspielerische Glanzleistungen, die das Grundthema immer wieder mit Grandezza variieren und jedenfalls bis zur Pause durchaus viel Freude machen.
In den Romanen landet Vernon auf der Straße, lehnt die Hilfe seiner Freunde ab, haust im Park und wandelt sich dort zu einem Musikschamanen, der die Menschen um sich schart wie ein Heilsbringer. Von den sogenannten Convergencen, also spirituellen und drogenfreien Raves an entlegenen Orten, geht es zurück nach Paris. Dort erledigt ein Massaker, ähnlich dem im Bataclan, die letzten Utopien. Doch überlebt für die Zukunft eine vage Idee von einer durch Musik evozierten Gegenwelt, von der aber, im Roman wie auf der Bühne, nur noch der Epilog kündet. Von Vernons Leben auf der Straße, von der Aura der Tanzveranstaltungen erfährt man bei Pucher nichts.
Erst einmal werden alle Figuren eingeführt wie Emelie. Mit einem Peng. Das dauert eine Weile, weil es so viele sind. Bedeutend sind Jochen Noch als fieser Produzent Dopalet, der auf der Jagd nach Bleachs Video ist, da er zu Recht befürchtet, es könnte ihn den Kopf kosten. Wüst hat er die Pornokönigin Vodka Satana zu einem Stück Fleisch erniedrigt, sie brachte sich um, Bleach wusste das. Großartig: Thomas Hauser als ehemalige Porno-Queen Pamela Kant, mit Würde und großem Herz; Wiebke Puls als Hyäne, krasse Internetagentin mit eisiger Schlauheit; Nils Kahnwald als Börsentrader auf Koks. Nazis tauchen auf, ein laizistischer Vater und seine islamistische Tochter, Olga, unzerstörbare Pennerin, verkörpert von Annette Paulmann mit Pracht-Entrüstung.
Bis zur Pause wird dieses Personal halbwegs miteinander verschlungen, wobei ein gewisser Verlautbarungscharakter erhalten bleibt. Der Kit ist die Musik. Jelena Kuljić ist Subutex. Anders als in den Romanen, in denen Vernon somnambul mit seinen Platten verzaubert, singt sie auch. Das kann sie wunderbar. Fabelhaft etwa die Version von Leonard Cohens Vermächtnisstück "You Want It Darker" - bei Pucher ist Vernon aktiver Künstler, ist einmal auch Jesus, Leidensgestalt mit Ingmar-Bergman-Kunstappeal.
Das Cohen-Stück ist im zweiten Teil die letzte Erinnerung an ein Rock'n'Roll-Gefühl. Die Bühne (Barbara Ehnes) ist eine Vinyl-Schallplatte, die vorne in breiten Rillen abbricht, sich aber hinten zu einem amphitheatralen Hörsaal erhebt. Dort hocken sie dann nach der Pause, und jede Figur sondert eine Suada ab. Doch die Wellen brechen sich vor dem Publikum, die Überschaubarkeit von Despentes' rhetorischem Vermögen wird deutlich, reiht man Abgesang auf Abgesang. Ja, alles ist schlecht, alle Träume sind verflogen. Übrig bleibt die Macht der Reichen, Terror, Radikalisierung. Puh.