Süddeutsche Zeitung

Theater:Der Gegenerzähler

Thomas Köck hat sich mit seinen Stücken in die erste Liga der neuen Dramatik geschrieben.

Von Cornelia Fiedler

Es kann einem durchaus schwindelig werden, wenn man die Perspektive wechselt, siehe Achterbahn. Auf diesen Effekt setzt der Erfolgsautor Thomas Köck, wenn er in seinen Stücken gängige Diskurse kapert - und aus der Sicht von Randfiguren von den menschlichen Kollateralschäden der Geschichte erzählt: In "paradies fluten" blicken die beiden letzten Menschen von einer Sintflut umtost auf den Klimawandel zurück. In seinem kafkaesken Drama "dritte republik" sucht eine verirrte Landvermesserin vergebens nach den Grenzsteinen und deren Sinn. In "atlas" erzählt eine junge Vietnamesin von der deutschen Wiedervereinigung, erzählt, wie ein "Wir" sich auf den Straßen formiert, in dem sie als ausländische Vertragsarbeiterin einfach nicht vorgesehen ist.

Diese Frau übernimmt in der jüngsten Uraufführung des 31-jährigen Dramatikers am Schauspiel Leipzig eine Erzählung, die wir in- und auswendig zu kennen glauben - aber eben nur aus ost- und westdeutscher Sicht. In seiner Inszenierung hat Regisseur Philipp Preuss einen einfachen aber wirkungsvollen Weg gefunden, Köcks Erzählweise zu spiegeln und die Perspektive zu erweitern: In der kleinen Spielstätte "Diskothek" sitzt das Publikum mit Blick auf drei große Schaufenster. Gespielt wird drinnen, draußen vor dem Fenster und sogar auf der spärlich beleuchteten anderen Seite der vierspurigen Straße, auf der vor dreißig Jahren "Wir sind das Volk" skandiert wurde.

Der Widerstand in den Stücken Thomas Köcks findet im Erzählen statt

Betroffenheitskitsch ist diesem Autor fremd, der eine Auszeichnung nach der anderen abräumt, zuletzt den renommierten Mülheimer Dramatikerpreis. Auf seinen Besetzungslisten stehen deshalb auch gern Akteure wie "ein ertrinkendes Symphonieorchester", "mehrere Alternativen (stumm)" oder "die unsichtbare Hand des Marktes" - so geschehen in "paradies fluten", dem ersten Teil seiner "Klimatrilogie". "Betroffenheit lässt einen damit zurück, dass alles schrecklich ist", sagt Köck im Gespräch in einem Café in Berlin-Neukölln, wo der gebürtige Österreicher lebt. "Man muss darüber sprechen und schreiben, dass es debile Zustände gibt auf der Welt. Aber Sinn und Zweck dieser Arbeit sollte ja eigentlich sein, dass sich daraus irgendeine Form der Befreiung, des Widerstands ergibt."

Dieser Widerstand findet im Erzählen statt, genauer im Gegen-Erzählen. Köck entwirft Stellvertreterinnen, keine psychologischen Charaktere, die leise aber bestimmt Nein sagen. So wie die junge Vietnamesin Than, die aus der ihr zugedachten Geschichte aussteigt. Wie die verlaufen wäre, demonstriert in "atlas" eine ernüchternde Aufzählung realer Fälle, in denen Vertragsarbeiterinnen aus Vietnam bei heimlichen Abtreibungen starben. Der Grund: Das wenig "bruderstaatliche" Kosten-Nutzen-Denken der DDR definierte Schwangerschaft und Krankheit als "Vertragsbruch". Doch Than schafft es mithilfe eines weltgeschichtlichen Zufalls, unentdeckt zu entbinden und bei ihrer Familie zu bleiben. Der Staat, für den sie gearbeitet hat, löst sich in - jetzt kapitalistische - Luft auf. Die Splitter dieser möglichen, aber fiktiven Biografie verbindet Köck mit philosophischen Reflexionen über Sprache und Zeit, Hegemonie und Geschichtsschreibung. Und mit der kritischen Neuschreibung einer zweiten politisch gefärbten, diesmal westdeutschen humanitären Erzählung, der von der Aufnahme südvietnamesischer "Boatpeople" in den Siebzigerjahren.

In seinem Blog zeigt er, wie rechte Propaganda die Grenzen des Sagbaren verschiebt

Einzeln oder im Chor schubsen Köcks Figuren das Publikum mit ironisch-philosophischen Kommentaren, historischen Fakten und assoziativen Gedankensprüngen von einer Denkbahn in die andere, Loopings nicht ausgeschlossen. In seinen Texten, die teilweise fast Songtexte sein könnten, haben jüngere philosophische Ansätze wie der Spekulative Realismus von Rosi Braidotti oder Timothy Morton deutliche Spuren hinterlassen. Sie holen die Außenwelt in die Philosophie zurück. Diese Welt kann man zwar, sagt Köck, in widersprechende Erzählungen packen. Sie bleibe aber letztlich eine "völlig unverständliche, fast horrorartige Substanz, die auch ohne den Menschen gut zurecht kommt." Auch Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte" oder Paul Virilios "Rasender Stillstand" werden diskutiert, gesampelt und verschnitten. Menschliche Tragödie trifft menschgemachte Ursache: die Klimakatastrophe in der gleichnamigen Trilogie, die Grenz- und Ausgrenzungspolitik in "Dritte Republik", das Wiederaufflammen des Nationalismus in "Atlas".

Der bedrohliche Siegeszug des Rechtspopulismus in Europa ist für Köck immer ein Thema. Als 2016 mit Norbert Hofer ein FPÖ-Politiker drohte, die Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten zu gewinnen und im Wahlkampf täglich Wahrheiten verdrehte, gründeten Köck und einige befreundete Autorinnen und Dramatiker wie Gerhild Steinbruch und Jörg Albrecht den Blog "Nazis & Goldmund". Dort analysieren sie vor allem die Sprache des Rechtspopulismus, und wie diese "einen Diskurs der Brutalisierung der Gesellschaft fördert." Es ist ein Versuch, mit den Mitteln der Kunst einzuhaken und aufzuzeigen, wie rechte Propaganda die Grenzen des Sagbaren verschiebt - so lange, bis sich das Menschenfeindliche darin nicht einmal mehr rhetorisch tarnen muss.

Köcks Texte wirken dennoch nie offensiv didaktisch, eher suchend. Er kam während seines Philosophiestudiums in Wien über Performances mit Regisseurin Claudia Bosse zum Theater und entwickelt seine Stoffe aus langen Recherchen. Er stößt auf ein Thema, beim in Mülheim ausgezeichneten Stück "paradies spielen" war es die Zeitungsnotiz über den Tod chinesischer Wanderarbeiter bei einem Fabrikbrand in der Toskana. Dann beginnt eine Art forensische Ermittlung. Die Suche nach der Todesursache - und damit nach der Schuld - weitet sich meist schnell zur globalen Frage aus: Woher kamen die Arbeiter, was trieb sie dazu, ihr Land zu verlassen, warum schuften sie in Europa illegal an der Grenze zur Sklaverei? Zutage tritt ein letales Geflecht von Abhängigkeiten in Zeiten des globalen Kapitalismus und des Wachstums um jeden Preis.

Köcks Arbeiten treffen einen Nerv. Sie werden, im Gegensatz zum Großteil der neuen Dramatik, nach der Uraufführung an weiteren Theatern inszeniert, zuletzt sogar in Mexiko und Brasilien. Es ist wohl der richtige Zeitpunkt, um tradierte Erzählungen und allzu simple Welterklärungen mit den Mitteln der Kunst zu hinterfragen. "Kunst ist ein politisches Mittel", sagt Köck dazu, ganz einfach. Und wenn man nachfragt, weil das ein wunderbar zitierfähiges Statement ist, kommt, leise, freundlich und irgendwie unerschütterlich die Gegenfrage: "Gibt es denn eine Definition von Kunst, wo das Politische raus fällt? Wenn man sich über Ästhetik, über Wahrnehmung und Rezeption streitet, dann befindet man sich doch bei Kunst immer schon in einem Dissens. Da geht es immer um Positionen, um Haltung."

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Quelle:
SZ vom 30.01.2019
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