Süddeutsche Zeitung

Theater:Der Datenkater

Kein Entkommen: Im Staatstheater Saarbrücken legt die Zeitdiagnostikerin Felicia Zeller in ihrem neuen Stück "Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du" das Internet in der Offline-Welt auf die WG-Couch.

Von Cornelia Fiedler

Dieser Artikel ist illegal. Er verstößt gegen Paragraf 5 der AGB. Dieser verpflichtet das gesamte Publikum, "bei Verlassen des Veranstaltungsortes sämtliche während der Aufführung zur Aufführung gebrachten Inhalte vollständig zu vergessen". Wer im Staatstheater Saarbrücken sitzen bleibt, stimmt zu. Natürlich bleiben alle. Genauso, wie wir im Netz naiv Häkchen unter ungelesene Verträge von Apps setzen und Cookies akzeptieren. Diese verlangen kein Vergessen, sondern Zugriff auf Adressbücher, Standorte, Fotos. Dass dieses alltägliche Dealen mit Informationen tödlich enden kann, demonstriert die wortgewandte Zeitdiagnostikerin Felicia Zeller in ihrem neuen Stück "Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du".

Der Trick: Zeller überträgt die allgemeine digitale Sorglosigkeit in die Offline-Welt. Plötzlich liegt da also dieser Typ auf der WG-Couch, Alec. Alle halten ihn für den "großen Bruder" von irgendjemandem, keiner fragt nach. Alec hört zu, Alec beobachtet, Alec schreibt jedes Wort mit. Alec ist aber auch unendlich aufmerksam und hilfsbereit. Kein Wunder, dass ohne ihn bald gar nichts mehr geht.

Die Regisseurin Marie Bues inszeniert die Uraufführung des Big-Data-Dramas in Saarbrücken in Koproduktion mit dem freien Theater Rampe in Stuttgart als einen Wort-Hürdenlauf in Hochgeschwindigkeit. Die Bühnenbildnerin Indra Nauck stellt ein Set aus meterlangen Mikadostäben zur Verfügung - nur keine falsche Bewegung, signalisiert die Bühne. Nur kein falsches Wort in Alecs Beisein heißt das, doch das verstehen die vier jungen, zunehmend durchsichtigen Menschen, gespielt von Yevgenia Korolov, Cino Djavid, Barbara Behrendt und Niko Eleftheriadis, erst viel zu spät.

"Ich habe nichts zu verbergen", sagen sie, wenn Big Brother Alec "als Basis für in Zukunft zu Redendes" sämtliche Gespräche auswertet. Schulterzuckend nehmen sie hin, dass sie plötzlich laut das eigene Geschlecht rufen sollen, bevor sie das Bad betreten. Klar nerven seine Zettel, auf denen sie vor jeder Handlung "ignorieren oder akzeptieren" ankreuzen müssen. Doch selbst als Alec und sein immer fetter werdender Datenkater einer Mitbewohnerin beim Sex zuschauen, reicht das nicht für einen Rauswurf. Zu groß ist die Trägheit, zu groß die Hemmung, selbst Verantwortung zu übernehmen.

Alec, über den alle sprechen, der als Figur aber nie in Erscheinung tritt, kennt bald alle Termine, alle Pläne, alle Bedürfnisse. Ungefragt erstellt er eine perfekte Einkaufsliste für die WG-Party, holt seine Mitbewohner vom Arzt oder vom "Pragmatismus-Kurs" ab, schmeichelt deren Ego durch einfühlsame Gespräche über ihr Konsumverhalten. So, wie der Facebook-Algorithmus entscheidet, welche News welchem User angezeigt werden, schleppt Alec plötzlich jede Menge kostenloser Zeitschriften an. Der Haken: Wie der Algorithmus siebt auch er gezielt "uninteressante" Informationen aus. So fehlt in der kostenlosen Ausgabe der Zeitung Eure Stimme, für die einer der vier Mitbewohner arbeitet, plötzlich eine investigative Recherche seiner Kollegin A.

Die WG-Komödie wird zum Politthriller, als Journalistin A. von den Schergen jener Regierung bedroht wird, über die sie kritisch berichtet hat. Sie sucht Zuflucht in der WG. Dummerweise hat Alec inzwischen die Miete an die Preisgabe von Information gekoppelt, was die Selbstzensur in Gesprächen extrem erschwert. Als sie erneut in jenes Land einreist, "von dem du sagst, es wurde innerhalb von vierzehn Tagen zu einer Diktatur umgebaut und das tue dir leid", wird sie abgefangen.

Hier verliert sich ihre Spur. Diese Wendung kommt etwas unvermittelt, ermöglicht Zeller aber, ohne erhobenen Zeigefinger ein zentrales Dilemma der Big-Data-Ära greifbar zu machen: Das angesagte, blauäugige Nichts-zu-Verbergen-Haben ist ein Luxus. Leisten kann ihn sich, wer in einer einigermaßen stabilen Demokratie lebt. Und vor allem, wer den Blick über den eigenen Wohlfühl-Horizont hinaus streng vermeidet.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2016
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