Theater:Das zweite Gedächtnis

Theater: Zeugin des Schreckens: Anke Engelke in „Kluge Gefühle“.

Zeugin des Schreckens: Anke Engelke in „Kluge Gefühle“.

(Foto: Dorothea Tuch/HAU Berlin)

"Ich dachte, du sprichst irgendwann": Anke Engelke spielt ein Folteropfer in Maryam Zarees Stück "Kluge Gefühle" im Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU).

Von Peter Laudenbach

Die Füße, genauer: die Fußsohlen gehören zu den empfindlichsten Körperteilen des Menschen. In Evin, dem berüchtigten Foltergefängnis in Teheran, nennen die Häftlinge die Füße "das zweite Gedächtnis": Die Peitschenhiebe auf die Fußsohlen vergessen die Gefolterten ein Leben lang nicht. Jahrzehnte nach ihrer Haft berichtet eine Frau vor einem Tribunal in Den Haag, was sie 1981, zwei Jahre nach der Revolution Chomeinis, im Evin-Gefängnis erlebt hat. Ihr Mann wurde im Gefängnis ermordet. Sie selbst war schwanger und brachte ihr Kind dort auf die Welt. Sie spricht bei ihrer Zeugenaussage sachlich und nüchtern. Es geht darum, die Fakten so genau wie möglich zu rekonstruieren.

Sie sind so schrecklich, dass sie für sich sprechen und keine theatralische Begleitmusik brauchen. Im Berliner HAU-Theater, in Niels Bormanns Inszenierung von Maryam Zarees Stück "Kluge Gefühle", spielt Anke Engelke diese Frau. Sie spielt sie als eine Schauspielerin, der es wichtig ist, diese Geschichte zu erzählen, weil genau solche Geschichten in vielen Ländern geschehen - kein Divenauftritt, sondern der Versuch, diese Frau aus Teheran kennenzulernen.

Maryam Zarees Stück hat autobiografische Züge. Die Schauspielerin und Autorin kam in Teheran zur Welt, ist in Deutschland aufgewachsen und spielt heute unter anderem am Berliner Maxim- Gorki-Theater. Ihr Stück erzählt sie aus der Perspektive der Tochter (gespielt von Eva Bay): einerseits eine normal neurotische Großstädterin. Andererseits die Tochter einer Mutter, die Schreckliches erlebt hat. Die Zeugenaussage ihrer Mutter verfolgt sie im Internet. Sie hat nur durch Zufall von dem Tribunal erfahren. Irgendwann sprechen Mutter und Tochter über ihre Sprachlosigkeit: "Ich dachte, du fragst irgendwann." - "Ich dachte, du sprichst irgendwann." Das ist kein Vorwurf, es ist eine Feststellung: Es gibt Dinge, über die man leichter mit Fremden oder bei einem politischen Tribunal sprechen kann als mit dem Menschen, den man am meisten liebt.

Weil Maryam Zaree eine genaue Beobachterin und eine Erzählerin mit Sinn für Situationskomik und Ambivalenzen ist, gelingt ihr das Kunststück absurder und selbstironischer Szenen: Der Alltag besteht eben auch aus peinlichen Internet-Flirts, Einkaufen und Telefonaten mit der Freundin. Niels Bormanns Regie ist von dokumentarischer Kargheit, der man die Vorsicht und den Respekt vor dem Stoff und der Autorin anmerkt: Im leeren Bühnenraum werden die Szenen eher angerissen und vorgeführt als üppig illustriert. Das ist nicht die schlechteste Form, mit diesem Text umzugehen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: