Süddeutsche Zeitung

Theater:Das Migrations-Hähnchen

Suche nach Identität im Plural: Sebastian Nübling bringt am Gorki-Theater Berlin Sasha Marianna Salzmanns Roman "Außer sich" auf die Bühne.

Von Mounia Meiborg

Was soll das schon sein, eine Identität? Bei Sasha Marianna Salzmann gibt es die, wenn überhaupt, im Plural. Und auch dann nur mit Fragezeichen. Auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters in Berlin sind verschiedene Rahmen ineinander verschachtelt, als sträubten sie sich gegen eine eindeutige Sichtweise. Die Protagonistin in Salzmanns Debütroman "Außer sich" weiß schließlich selbst nicht so recht, wer sie ist. Frau oder Mann? Russin, Deutsche, Jüdin? Queer oder hetero?

Regisseur Sebastian Nübling behält die Romanstruktur bei und arrangiert eine lose Szenenfolg

Der Roman, der im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, erzählt mit Raum- und Zeitsprüngen von einer Identitätssuche unter verschärften Bedingungen. Von einer Kindheit in der Sowjetunion; der Flucht nach Deutschland, die zunächst in einem süddeutschen Flüchtlingsheim endet; von Zwillingen, Junge und Mädchen, die all das zusammenschweißt; vom Verschwinden des Jungen; Protesten im Istanbuler Gezi-Park und Frauen, die Testosteron spritzen.

Auch die Geschichte der Vorfahren wird aufgeblättert, ein russisch-jüdisches Panorama der vergangenen 100 Jahre. Familienmodelle lassen sich hier meist auf eine einfache Formel bringen: Väter trinken und prügeln, Frauen machen den Rest.

Ziemlich viel Stoff also für einen Theaterabend. Der Regisseur Sebastian Nübling behält die Struktur des Buches bei und arrangiert eine lose Szenenfolge. Für Zuschauer, die den Roman nicht kennen, dürfte das verwirrend sein. Das ist umso bedauerlicher, als sinnlich nicht allzu viel los ist. Gesprochen wird oft frontal ins Mikro, Szenen werden mehr angedeutet als ausgespielt. Ganz anders, mit physischem Zugriff und beeindruckendem Rhythmus, hatte Nübling im vergangenen Jahr Salzmanns Stück "Zucken" inszeniert.

Es sind dann einzelne Momente, die hängen bleiben: Wie Sesede Terziyan und Kenda Hmeidan als täuschend ähnliche Zwillingskinder um die Wette raufen. Wie Anastasia Gubareva die Mutter pointensicher als Strebermigrantin spielt - und man sie bei aller Lächerlichkeit verstehen kann. Und wie Mehmet Ateşçi als Zwillingsbruder in einem Monolog am Ende erzählt, warum er abgehauen ist. Er isst dabei mit den Händen ein Hähnchen, im Roman das Symbol für Migration. Immer wieder will er sich die Hände abwischen, findet nichts, isst weiter. Man würde ihn gerne erlösen. Aber das ist an diesem Abend der schmerzlichen Identitätssuchen nicht vorgesehen.

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Quelle:
SZ vom 17.10.2018
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