Süddeutsche Zeitung

Theater:Das große W des weißen Künstlers

Europäische Selbstkritik hat die Intendantin Stefanie Carp der Ruhrtriennale vorgeschrieben. Der Auftakt des Festivals hielt das Publikum noch auf Distanz.

Von Christine Dössel

Das Auditorium Maximum der Ruhr-Universität Bochum ist ein imposanter Bau. Von außen sieht er aus wie ein wuchtiges Zirkuszelt aus Glas und Sichtbeton, innen wie ein parlamentarisches Amphitheater. 1700 kreisrund angeordnete Sitzplätze in leuchtendem Orange. Ein gigantischer Raum, den man erst mal auf sich wirken lassen muss. Ein Ort, wie geschaffen für ein imaginäres "Weltparlament", wie es Christoph Marthaler in seiner Inszenierung "Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend" vorschwebt. Und der schon insofern zur Ruhrtriennale passt, als er, wie alle Schauplätze dieses großformatigen nordrhein-westfälischen Kultur- und Renommierfestivals, durch seine schiere Dimension beeindruckt.

Trotzdem gab es vereinzelt Kritik, dass die Eröffnung diesmal hier stattfand, im Audimax, und nicht in einer der alten Industriehallen des Ruhrgebiets. Denn zum Grundprinzip und Markenzeichen der Ruhrtriennale gehört die Bespielung der historischen Bauten im Revier, der Stahlwerke, Kraftzentralen und Mischanlagen. Und ein Hörsaal ist nun mal keine Kokerei.

Stefanie Carp ist Kritik gewöhnt. Im vergangenen Jahr, ihrem ersten als Triennale-Chefin, hat sie einen Entrüstungssturm ausgelöst, weil sie die Band Young Fathers einlud, die mit der antiisraelischen Boykottbewegung BDS sympathisiert. Carp flog eine Antisemitismusdebatte um die Ohren, die sie fast den Job gekostet hätte. Erst hatte sie die Band aus-, dann doch wieder eingeladen. Am Ende sagten die Musiker selber ab. Und auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte ab: Er boykottierte die Ruhrtriennale, das kulturelle Aushängeschild des Landes, demonstrativ.

Marthalers "Spätabend" wirkt wie ein Wundpflaster auf die letztjährige Debatte

Diesmal war er da. Laschet ließ sich bei der Eröffnung händeschüttelnd mit der Intendantin ablichten - die beiden lernten sich an diesem Abend überhaupt erst kennen - und zeigte sich nach der Premiere derart angetan von der "kongenialen" Zusammenführung von Stück und Spielort, dass er bei seiner Rede im schicken Mensa-Foyer sein Manuskript beiseitelegte und seiner Begeisterung freien Lauf ließ. Wie es scheint, ist erst mal alles wieder gut.

Marthalers "Spätabend" wirkt denn auch wie ein abschließendes Wund- und Signalpflaster auf die letztjährige Debatte. Von wegen Antisemitismus. Das szenische Konzert ist der Musik jüdischer Komponisten aus Tschechien, Polen und Wien gewidmet, von denen viele 1941 nach Theresienstadt deportiert und später in Auschwitz ermordet wurden, etwa Pavel Haas und Viktor Ullmann. Andere wie Alexandre Tansman und Ernest Bloch konnten emigrieren. Uli Fussenegger hat die Kompositionen, die zum Teil in Theresienstadt entstanden, bearbeitet und neu instrumentiert und lässt sie von einem feinen, kleinen Kammerorchester spielen (er selber am Kontrabass). Wehmütige, sehnsuchtsvolle, schmerzdurchdrungene Weisen. Bittersüße Kantaten, Melodien, Sätze aus Streichquartetten. Manchmal nur ein leises Tönen, ein zarter Atem von Musik.

Geschrieben, gesampelt und mit einer dürftigen Rahmenhandlung versehen hat diese Texte Stefanie Carp, seit je Marthalers oberste Dramaturgin. Sie imaginiert eine Gedenkfeier in der Zukunft, in einem leer stehenden Parlament, bei der auf 200 Jahre Holocaust zurückgeblickt und der Rassismus zum Unesco-Weltkulturerbe erhoben wird. Die gar nicht so feierliche Rückschau ist eine mit grober Deutlichkeit zusammengestellte Collage aus Hassreden und Rassismen. Zitate von Rechtspopulisten wie Orbán, Gauland, Salvini mischen sich mit dem Gedankengut der Identitären und den Ängsten besorgter Bürgerinnen. In dieser geballten Ladung ist das eine echte Zumutung, abgemildert allenfalls durch den Umstand, dass es die sonst so liebenswürdigen Marthaler-Sonderlinge sind, die hier sprechen. Denen solche Schmähreden freilich nicht gut zu Gesicht stehen.

Der Abend ist keine genuine "Kreation" für die Ruhrtriennale, sondern basiert auf einem Projekt, das Marthaler 2013 sehr ähnlich im Wiener Parlament inszenierte, wo man als Zuschauer viel dichter dran war. Im Ruhrgebiet wirkt die Textcollage allzu österreichlastig, sind die zentralen Bausteine doch geblieben, etwa die berüchtigte Rede zur "Judenfrage" des späteren Wiener Bürgermeisters Karl Lueger von 1894. Oder die unsäglichen Äußerungen einer FPÖ-Politikerin im Zwiegespräch mit einem Nigerianer, hier übergehend in ein Jodel-Kuckuckslied.

Gut, dass sie im letzten Drittel des Abends verstummen, die banal bösen Nazi-Redner, wie von der Musik überwältigt, die zunehmend den Raum einnimmt. Ergreifend die Einspielung von Luigi Nonos Auschwitz-Gesängen für Chöre vom Tonband: höllenschlundgrausige Totenmusik, gespenstisch wie aus den Verbrennungsöfen hallend. Gegen Ende werden die Gedenkfeierlichen immer marthalerischer, verfallen in Zuckungen oder fallen um. Schließlich ziehen sie in Wintermänteln aus dem Saal aus, einen leisen Choral von Felix Mendelssohn-Bartholdy auf den Lippen: "Wer bis an das Ende beharrt". So verdämmert der Abend schmerzhaft schön, vom Publikum, das auf Distanz gehalten wurde, aber nur mäßig beklatscht.

"Aspekte europäischer Selbstkritik" hat Stefanie Carp als Festivalthema vorgegeben: Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler sollen sich mit ihrer eigenen privilegierten Existenz in einem an Deutungshoheit und Demokratie verlierenden Europa beschäftigen. Der Belgier Jan Lauwers, Chef der famosen Needcompany, tut dies, indem er einen radikal intimen Einblick in seine Künstlerfamilie gibt, die zum Großteil identisch mit seiner leibhaftigen Familie ist: Frau, Sohn, Tochter nebst deren Freunden machen sich für den Häuptling buchstäblich nackig, wenn Lauwers in seinem neuen Stück "All the good" seine "Legitimation als Weißer Künstler im interkulturellen Kontext" befragt, wie es im Programmbuch der Ruhrtriennale heißt (tatsächlich mit großem "W").

Ambivalent ist auch diese Produktion, uraufgeführt in der majestätischen Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck. Einerseits schaut man den fidelen Mitgliedern der Lauwers-Family wahnsinnig gerne zu, weil sie alle so gut aussehen und so unorthodox, frei und schamlos sind, dass man sich dagegen ganz langweilig vorkommt. Sex, nackte Wahrheiten und Video: Hier nimmt keiner ein Feigenblatt vors Geschlecht. Tochter Romy filmt sogar live aus ihrer Vagina und feiert das Videostill als das "ultimative Bild, das alle Bilder in sich trägt", als sei das in der Kunst etwas Neues.

Andererseits ist "All the good" viel zu privatistisch, familienchaotisch und überladen, um dem Anspruch des Stücks, eine profunde Kunst-, Selbst- und Schmerzbefragung in Zeiten von Krieg, Terror und Identitätskrisen zu sein, standzuhalten. Da verläppert vieles in exhibitionistischer Selbstdarstellung und kleinteiligem Tohuwabohu.

Ein roter Faden im verknoteten Ideen- und Handlungsknäuel ist die Geschichte des israelischen Ex-Soldaten Elik Niv, der nach einem Unfall vom Anti-Hisbollah-Kämpfer zum Tänzer wurde. Er bringt in der Rolle von Romys neuem Freund einen ungemütlichen Israel-Konflikt in die Familie, wird von der Mutter nach seinen militärischen Einsätzen befragt. Die Mutter, das ist die Choreografin Grace Ellen Barkey, Lauwers' Frau, eine faszinierend grazile Leuchtrakete. Ihre Tinder-Date-Einlage mit dem jüngeren Camilo ist ein extrakomisches Kabinettstück.

Lauwers wirkt als "irreführender Erzähler" am Rand der Szenerie selber mit. Auf der Bühne ist der stimmgewaltige Benoît Gob sein Alter Ego: "ein Künstler in einem Netz aus Zweifeln", ein Mann in der Krise. Die großräumige Maschinenhalle zeigt eine Mischung aus Künstlerloft und Probenraum, mit familiären Wohnnischen und Rollpodesten für die hervorragenden Musiker (Komposition mit viel Cello-Einsatz: Maarten Seghers). Dominiert wird die Bühne von einer Skulptur aus 800 blauen Glaskugeln in Tropfenform. Das Ding sieht aus wie ein Schwan mit Rüssel und steht für das Kunstwerk an sich: schön, nutzlos, zerbrechlich, auf nichts eine Antwort gebend. Immer wieder gibt Lauwers den Maulkorb vor: Kunst und Politik sollen getrennt werden, "wir können nicht alle Geschichten erzählen". Aber selbst in die Lovestories dringt die Welt(geschichte). Die familiären Episoden werden mit Werken der Kunstgeschichte kurzgeschlossen, von Gustave Courbets Skandalschamgemälde über Picassos "Guernica" bis hin zur Geschichte der Barockmalerin Artemisia Gentileschi, die von ihrem Meister vergewaltigt wurde. Sie spielen das rabiat nach - Hashtag "Me Too" -, gottlob ohne Vollzug.

Heiner Goebbels gibt mit seiner Superperformance dem Festival das größte Spektakel

Der Kunstdiskurs endet mit Lauwers' Analyse der "Kreuzabnahme" des flämischen Malers Rogier van der Weyden. Die Klarheit und Trauer, mit der er in dem Gemälde Absichtsfehler des Künstlers und gerade dadurch ein paar fundamentale Wahrheiten entdeckt, versöhnt dann wieder mit vielem, was nicht so gut ist in "All the good", diesem "höchst vertrackten Bild".

Auch Heiner Goebbels' opulente Einrichtung "Everything that happened and would happen" in der Bochumer Jahrhunderthalle ist gewissermaßen eine Bildbetrachtung, mehr noch ein Bildersturm: eine bruchstückhafte Rückschau auf Europa im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert zweier Weltkriege, dargeboten mit schier Wagner'schem Wollen als high-end-technische Materialschlacht und multimediales Minimalmusikgeschwader in düsterer, untergangsschwangerer Szenenabfolge. Alles schwarz und grollend und absolut humorfrei. Der Maestro, von 2012 bis 2014 selber Intendant der Ruhrtriennale, gibt mit dieser installativen Superperformance dem Festival das größte Spektakel in der größten Industriehalle, allerdings wenig mitreißend und überzeugend.

Der Rückblick auf hundert Jahre Geschichte, bereits letztes Jahr beim Manchester Festival uraufgeführt, fußt auf drei dramaturgischen Säulen: dem disparaten Roman "Europeana" des tschechischen Autors Patrik Ouřednik, aus dem gelegentlich vorgelesen wird. Auf der von Goebbels schon mal inszenierten Oper "Europeas 1 & 2" von John Cage. Und auf tagespolitischen Fernsehbildern des Senders "Euronews: No comment". Goebbels mixt das alles zu einer Szenenabfolge, in denen 20 zu Bühnenarbeitern degradierte Performer und Tänzer in schwarzen Overalls Requisiten arrangieren und mit Versatzstücken wie Säulensockel, Rohre, Rollwagen, Hängekulissen und jeder Menge Stoffbahnen eine Abfolge von assoziativen Tableaus schaffen. Dazu das Klopfen, Wummern und Dräuen der Musik, ein minimalistischer Industriesound, erzeugt von fünf Musikern auf im Raum verteilten Inseln. Es ist ein kaltes Gesamtkunstwerk, der Text vernachlässigbar. Viele Bilder in ihrer Abstraktion beliebig, manche zauberschön: der Tunnel aus Nebel, der flirrende Strichcode-Raum. Am Ende eine dystopische Landschaft aus Lappen und Licht. Und Europa? Total erledigt.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2019
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