Süddeutsche Zeitung

Theater:Das Glück im Dreck

Frank Castorf inszeniert am Münchner Residenztheater "Don Juan". Zwei Schauspieler teilen sich die Liebhaberrolle und ziehen sich gegenseitig am Nasenring durch die Arena männlicher Idiotie.

Von Egbert Tholl

Die erste Überraschung, wenn man das Münchner Residenztheater betritt, ist die Bühne. Da oben steht ein putziges Theaterchen, es hat ein reich verziertes Portal, auf dem das Bild einer Muse thront, einen Prospekt, der eine hübsch gemalte Landschaft zeigt. Lämpchen, hinter Muscheln verborgen, beleuchten diese Imagination eines barocken Theaterkleinods, links hängt auf einem Balkon Wäsche an der Leine, die Vorderbühne ruht auf Fässern und Gerümpel. Da könnte jetzt auch ein Stück von Goldoni stattfinden, man erwartet nicht unbedingt eine Castorf-Inszenierung von Molières "Don Juan", vielmehr muss man sich mit einem Blick ins Programmheft versichern, dass die Bühne tatsächlich Aleksandar Denić gebaut hat. Es gibt keine Neonreklame und keine Cola-Werbung, keine Insignien des Kapitalismus und man ist sich nicht sicher, ob sich das Ding überhaupt drehen kann.

Die zweite Überraschung kommt vier Stunden später, wenn die Aufführung nach für Castorf-Verhältnisse schlanker Zeit endet, wirklich endet, nicht einfach ausdünnt und im Schlussapplaus verloren geht. Der steinerne Gast holt Don Juan, und dann ist es aus.

Es gibt drei Gründe, weshalb Frank Castorf "Don Juan" inszeniert. Einer hat mit ihm selbst zu tun, weil er sechs Kinder von fünf Frauen hat und überhaupt ein in Liebesdingen sehr neugieriger Mann ist respektive war, da kennt er sich aus.

Einen anderen Grund findet man in der zweiten Szene des fünften Akts. Da sagt Don Juan zu seinem Diener Sganarelle: "Die Heuchelei ist ein Laster, das in Mode gekommen ist, und alle Laster, die in Mode kommen, gelten als Tugenden." Castorf hasst Heuchelei, und in diesem Hass schwärt vermutlich noch die Wunde Volksbühne weiter, auch wenn er behauptet, das Ganze interessiere ihn überhaupt nicht mehr. Der dritte Grund schließlich ist bei Molière angelegt, und Castorf baut ihn in der Aufführung mit einem Text von Blaise Pascal aus: "Zerstreuung ist das Einzige, was uns über unser Elend hinwegtröstet, und dabei ist sie doch gerade unser größtes Elend. Die Zerstreuung verschafft uns Amüsement und bewirkt, dass wir, ohne es zu merken, zu Tode kommen." Das Unglück der Menschen rühre allein daher, dass sie sich nicht ruhig in einem Zimmer aufhalten können.

Es geht also darum, dass wir nicht aufrichtig sind, schon gar nicht gegenüber uns selbst, dass wir uns mit allen möglichen Aktivitäten beschäftigen, um ja nicht über uns selbst nachdenken zu müssen. Und schon ist Molières altes Stück unglaublich modern, zumal es ohnehin mehr Philosophie als Drama ist, geredet wird viel, passieren tut wenig, da bietet Mozarts Oper mehr Action, die wohl bekannteste Variante dieses Stoffes.

Bei Castorf wird ja grundsätzlich auch viel geredet, im vorliegenden Fall fast alles aus Molières Stück, in der flotten Übersetzung von Hartmut Stenzel, aber auch Texte von eben Pascal, Heiner Müller ("Engel der Verzweiflung"), Georges Bataille und Alexander Puschkin. Dadurch kommt ein bisschen dekadenter Schweinkram herein (Bataille) und grandiose Morbidität. Ähnlich wie bei Edgar Allan Poes "Maske des roten Todes" feiert in Puschkins "Gelage während der Pest" die hohe Gesellschaft ein Fest, während draußen der Tod wütet. Das birgt natürlich keine Rettung, ist eine letzte bizarre Lebenszuckung, wie durch die ganze Aufführung Dekadenz und Tod wabern. Untermalt wird diese Stimmung unter anderem mit Ausschnitten aus Fellinis Film "La dolce vita" (1960), in dem Marcello Mastroianni im Hedonismus ersäuft.

Die beiden Don Juans lungern am Cola-Automaten herum und schütten sich Limo über den Kopf

Doch erst einmal reden zwei Don Juans über die Liebe, ein junger und ein alter, beide gekleidet, als wäre der Hof Ludwigs des XIV. eine Siebzigerjahre-Disco gewesen. Der junge, Franz Pätzold, will wie Alexander der Große unbekannte Welten entdecken, um weiter Frauen erobern zu können und nicht dem Stillstand der Liebe anheimzufallen; der alte, Aurel Manthei, brummt. Dann dreht sich die Bühne doch, die Don Juans verschwinden, und die Denić-Insignien tauchen auf, also ein genialischer Bühnenhaufenverhau, Neonschrift, Videoleinwand und ein Cola-Automat, den die beiden Don Juans traktieren und dazu "Lola" von den Kinks singen, weil in dem Song Cherry-Cola vorkommt, die sich die beiden über den Kopf schütten.

Da ist man wieder in der vertrauten Castorf-Welt, in der Hysterie und Unfug herrschen, wobei in diesem Fall die Grundstimmung eine andere ist. Irgendwo wurmt immer trübselige, dunkle Musik herum, so Neondepression wie von Chris Isaak, Blues oder Klassik, meist liegt Mehltau über dem Geschehen, nah an der Larmoyanz, und die beiden Don Juans tun alles, um sich gegenseitig am Nasenring durch die Arena männlicher Idiotie zu ziehen. Dabei entstehen, wie stets bei Castorf, grandiose Momente wie die Szene, wenn die beiden Don Juans nach einem Malheur mit einem Schiff nackt bis auf die Stützstrümpfe auf die Bühne gesprungen kommen, "The boys are back in town" (Thin Lizzy). Völlig ungerührt und sehr nackt versuchen sie sich dann an der Verführung der Bäuerin Charlotte, lächerliche Physiognomien mit lächerlichen Schwänzen und doch in ihrer Selbstverständlichkeit voller Würde.

Ein Highlight sind die drei herrlichen Ziegen Onyx, Saphir und Rubina

Manthei und Pätzold machen tolle Sachen, teilen die Figur untereinander auf und nehmen ein bisschen Text des Dieners Sganarelle mit, den es explizit nicht gibt, von dem aber Marcel Heuperman auch viel Text übernimmt. Heuperman, bislang am Residenztheater eher unauffällig, wird hier zum Ereignis, ein wuchtiger, lieber, schlauer Bauer - Pierrot -, ein ruhender Gegenpol zu den getriebenen Don Juans. Pierrots Verlobte Charlotte spielt Nora Buzalka, rasend schön und mit Heuperman zusammen die Verheißung eines Glücks im Dreck. Je länger die Aufführung währt, desto mehr werden die beiden ihr Zentrum. Dann gibt es noch eine schöne Frau, Farah O'Bryant, Bibiana Beglau spielt die Elvira, Don Juans verlorene Gattin, hat zwei große Momente, sonst aber wenig zu tun. Jürgen Stössinger ist Don Juans Papa und der Komtur, Julien Feuillet spielt auch mit, warum, weiß kein Mensch, er brabbelt ein bisschen was auf Französisch. Und schließlich sind da noch die drei herrlichen Ziegen Onyx, Saphir und Rubina.

Castorf hat, gerade auch in München, schon Abende gemacht, die viel geistreicher waren. Sein "Don Juan" wirkt am nächsten Tag besser als im Moment der langatmigen Aufführung. Die Bühne, die Videos aus deren Innerem, ein toller Salon und ein Boudoir mit Louis-Vuitton-Bettwäsche, die steilen Kostüme (Adriana Braga Peretzki) - all das wirkt so vertraut, als sei man bei alten Bekannten zu Besuch. Doch anders als bei Janaceks "Aus einem Totenhaus", das Denić und Castorf vor sechs Wochen nebenan an der Bayerischen Staatsoper herausbrachten, muss sich hier der Stoff nicht der Privatästhetik der beiden Macher unterordnen, in Gegenteil, sie dient ihm. Dennoch bleibt ein Rest Malen-nach-Zahlen, werden die bekannten Zutaten den Räumen zugeordnet. Das allerletzte Video ist dann allerdings herrlich: Pätzold und Manthei laufen (bekleidet) auf der Maximilianstraße herum, schauen sich die Schaufenster an. Gucci hat mit einem Plakat dekoriert. Darauf steht: "Liberté, Égalité, Sexualité". Was muss Castorf gelacht haben, als er das entdeckte.

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Quelle:
SZ vom 02.07.2018
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