Digitale Theaterpremiere:Aussteigerfrau

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Wütender Punk: Anna Drexler als Peer Gynt in der Bochumer Inszenierung von Dušan David Pařízek. (Foto: Matthias Horn)

Das Schauspielhaus Bochum zeigt Ibsens "Peer Gynt" mit Anna Drexler in der Titelrolle. Das Beste daran ist aber nicht sie, sondern wie sich die brav auf den Mann wartende Solveig gegen ihre Rolle erhebt.

Von Egbert Tholl

In diesen Zeiten muss man erst einmal die Trostlosigkeit eines leeren Theaters erkunden. Hier tut dies Michael Lippold, er betritt die Bühne des Bochumer Schauspielhauses, sein Blick und der der Kamera richten sich in den Zuschauerraum, dort sitzen ein paar Menschen wie bei einer Generalprobe. Leere. In diese hinein springt das Gesicht von Anna Drexler vor die Kamera, großformatig, nah, verzerrt vor Wut: "I'm gonna fight them off." Drexler sprechsingt sich energetisch durch "Seven Nation Army", den Song von den White Stripes. Drexler spielt Peer Gynt. Ist der hier ein wütender Punk? Kommentar von Michael Lippold, der dessen Mutter Aase spielt: "Peer, du lügst." So beginnt Ibsens Stück.

Dušan David Pařízek inszeniert Ibsens "Peer Gynt" in Bochum, natürlich nur als Premiere im Stream, und die erste kleine Überraschung ist, dass Peer eben von einer Frau gespielt wird. Heute nennt man das "Cross-Gender", aber eigentlich ist es ein alter Hut, der hier aber für eine interessante Offenheit sorgt. Anna Drexler nähert sich aus naturgemäßer Distanz dem Mann, diesem seltsamen Wesen, das im Fall von Peer Gynt aus der Armut kommt und in die Welt hinauswill, das sich selbst sucht und nur an sich selbst denkt, das kapitalistische Unternehmungen startet und alle Menschen, die ihm begegnen, wegwirft wie einen leeren Plastikbecher. Peer wandelt sich auf jeder Station seiner Reise, und Drexler spielt die verschiedenen Peers mit Lust und Verve, nie kabarettistisch, kann altern und toben, überhaupt tobt sie eigentlich recht viel und bleibt doch meist sehr bei sich. Das ist beeindruckend zu verfolgen, und doch funktioniert es nicht so richtig.

In den vergangenen Monaten konnte man gut beobachten, wann Theater im Stream funktioniert und wann nicht. Man hatte den Eindruck, je mehr ein Stream in den Möglichkeiten des Digitalen aufgeht, desto überzeugender kann er sein; abgefilmtes Theater funktioniert vor allem bei sehr strengen Inszenierungen. Nun ist Pařízeks Inszenierung das Gegenteil von streng, und sie ist auch nicht fürs Digitale erdacht. Seine Bühne ist leer bis auf ein großes, flaches Holzquadrat, das man zu einer beeindruckenden Schräge aufstellen und herumdrehen kann. Den leeren Raum füllen die Menschen auf der Bühne mit Peers Schnurren, es gibt viel live fabrizierte Musik, streckenweise wirkt die Aufführung wie eine Band-Session, alle sind hier musikalisch begabt, Drexler selbst spielt einmal mit Furor Cello, in der Irrenhausszene singt Konstantin Bühler "Crazy" von Gnarls Barkley.

Im Schweinsgalopp geht es - recht genau mit den Worten von Christian Morgensterns Übersetzung - durch die Geschichte, Bühler, Lukas von der Lühe und William Cooper sind dabei eine Dreier-Jungscombo, die sich verschiedener Rollen annimmt. Michael Lippold bleibt hauptsächlich, mit Würde und schöner Sprache, Aase, Anne Rietmeijer spielt mit viel holländischem Charme die Solveig und jedes Instrument, das sie in die Finger kriegt. Alle sind sehr unternehmungslustig, treffen durchaus einen Kern von Ibsens Polystilistik, doch bleibt das Ergebnis löchrig, fahrig. Im Stream, da kann die Kamera noch so viele schöne Perspektiven suchen, bekommt man überhaupt kein Gefühl für die Situationen, keine Nähe, man beäugt eine Kostümschlacht ohne viel Nutzen, wartet auf den nächsten Song. Dem Bildschirm fehlt die Kraft der Imagination.

Und dann steuert die Aufführung auf die beiden Punkte zu, die Pařízek offenbar am Herzen liegen. Als Erste befreit sich Mercy Dorcas Otieno, in Nairobi geboren und, nebenbei, eine echte Soul-Queen, von ihrer Rolle der Wüstenhäuptlingstochter Anitra und haut einem Worte der ghanaischen Autorin Ama Ata Aidoo um die Ohren, herausgefiltert aus einem mehr als 30 Jahre alten Interview. Afrika habe 500 Jahre immer nur gegeben, nun hole sich der Kontinent alles zurück, was die Kolonialmächte geklaut haben. Peer versucht sich ja zwischenzeitlich selbst als Sklavenhändler, das passt also und auch zum Diskurs der Zeit.

"Abgesang auf den westlichen Dramenkanon": Anne Rietmeijer als Solveig (rechts vorne) verweigert dem heimgekehrten Peer Gynt (links: Anna Drexler) die liebevolle Aufnahme der wartenden Frau und rechnet mit ihrer Rolle als Solveig ab. (Foto: Matthias Horn)

Der zweite Punkt ist dann gänzlich wundervoll. Anne Rietmeijer stimmt erst "Solveigs Lied" von Edvard Grieg an und dann einen von ihr selbst geschriebenen "Abgesang auf den westlichen Dramenkanon". Sie ist es leid, als Solveig "zwischen den Zeilen", die "Paps" (Ibsen) auf Papier hinschrieb, auf Peer zu warten. Ist es leid, dass Peer als Mann die vielschichtige Figur sein darf, während sie nur dumm rumhockt. Ist es leid, von einem Mann erfunden worden zu sein. Auch Peer wähnt sich "in Ibsens Macht", aber wenigstens okkupierte Anna Drexler als Frau die Hauptrolle. Das ist Rietmeijer wurscht: "Ich lasse dich allein, möchte Solveig nicht mehr sein." Aus, Verbeugen, kein Applaus. Stille im leeren Raum.

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