Man sollte nicht lachen, wenn sich das Sterben eines Menschen arg in die Länge zieht, nicht einmal wenn dieser Mensch ein Massenmörder ist. Aber wenn an der Berliner Schaubühne das delirierende Schlaganfall-Opfer Wladimir Iljitsch Lenin mit stierem Blick letzte Worte für die Nachwelt stammelt (" schonungslos vernichten ... scharfe Rüge... idiotischer Papierkram...", kommt unfreiwillige Komik auf. Milo Rau hat dem Sterben Lenins einen skurrilen Theaterabend gewidmet. Dass die Inszenierung "Lenin" hypernaturalistische Rekonstruktion der Sterbesituation (oder mit der gängigen Angebervokabel: ein Reenactment) und gleichzeitig deren Dekonstruktion sein will, ist dabei noch eines der kleineren Probleme. Die originalgetreue, mit Spitzendeckchen, Samowar und Nachttopf liebevoll dekorierte Datscha samt Lenin-Schlafkammer ist ein Fernsehstudio, in der die letzten Wochen des Sowjet-Diktators verfilmt werden (Bühne und Kostüme: Anton Lukas und Silvie Naunheim).
So oberflächen- und detailverliebt, wie dieser Film Geschichte ins Pathossentiment entsorgt und seine Figuren klischeeselig zu Bilderbuch-Bolschewisten macht, muss es sich um eine Produktion der Mosfilm oder ein Werk des gefürchteten Historienfilmers Guido Knopp handeln. Auch die Brechungen des live erstellten Films lassen es nicht an Überdeutlichkeit und didaktischen Hinweisen fehlen. Als leicht ironisch getönter Prolog werden die handelnden Figuren, von den Herren Lenin (Ursina Lardi), Stalin (Damir Avdic) und Trotzki (Felix Römer) bis zur Leningattin Krupskaja (Nina Kunzendorf) vorgestellt, schließlich kann man beim an Revolutionshistorie interessierten Publikum nicht unbedingt Detailkenntnis erwarten. Am Schminktisch sieht man, wie den Schauspielern ihre Masken verpasst werden. Die Lenin-Darstellerin Ursina Lardi verwandelt sich erst im Lauf der Vorstellung von einer blonden Frau zum kranken Männchen mit Latexglatze und angeklebtem Spitzbart: das Making-of einer Revolutionsikone als professionell verrichtetes Werk der Maskenbildner. Was natürlich schwer symbolisch ist: Das Gesicht, der echte Lenin, verschwindet hinter der Ikone, als die ihn sein ruchloser Nachfolger missbrauchen wird.
Milo Rau zeigt den Massenmörder als Hegel-Leser und bescheidenen Diener der Weltrevolution
Leider ist die Grundannahme des Abends, mit Lenin sei so etwas wie das utopische Potenzial der Revolution gestorben, eher der Kitschdramaturgie als historischen Fakten geschuldet. Rau zeigt Lenin als Hegel-Leser und bescheidenen Diener der Weltrevolution, als einen Massenmörder mit Heiligenschein. Dass ausgerechnet ein so kluger, manisch recherchierender Dokumentar-Regisseur wie der Schweizer Milo Rau die simple Schwarzweiß-Zeichnung des edlen Revolutionärs im Kontrast zum ideologiefreien Schlächter Stalin bedient, ist eine der Peinlichkeiten der Inszenierung.
Auch sonst hält der Abend, was das Setting verspricht. So clean und simpel wie die Historienschinken-trifft-Fernsehstudio-Versuchsanordnung, so überschaubar ist das Geschehen auf der Datsche. Stalin blickt finster, weil im Geschichtsfernsehen Bösewichte eben finster zu blicken haben. Trotzki blickt abgründig, vermutlich soll ihn das als Intellektuellen charakterisieren. Wenn er nicht gerade Bücher schreibt oder gegen Stalin intrigiert, erzählt er Anekdoten aus seiner Zeit in Wien. Dort hat er als Theaterkritiker gearbeitet, offenbar ein Beruf, der den Charakter verdirbt. Kunzendorf als Krupskaja ist an diesem Abend für das stille Leiden zuständig. Lenin geht es von Szene zu Szene schlechter, aber für weise Einsichten ("Wir sind keine Heiligen") und eine Radiorede gegen die Demokratie reicht es noch. Dazwischen werden Geschichten von Folter und Bürgerkrieg erzählt, wir sind hier schließlich nicht in einer Soap, sondern bei Diktators zu Hause.
Dass Lardi als Lenin den wehen Blick so sehr beherrscht wie die Fähigkeit, von sich selbst ergriffen zu sein, kommt dem Schmachtfetzenfaktor des Todeskrampfes sehr entgegen. Um die letzten Kitschreserven zu heben, sind die fürs Gefühlige ergiebigen Szenen dezent mit Musik von Arvo Pärt unterlegt. Tritt Stalin auf, dröhnt es dagegen im Hintergrund bedrohlich. Und wenn Lenin in lichten Momenten von einer befreiten Menschheit träumt, gibt es als Vorgeschmack auf das kommunistische Paradies schon mal etwas Klaviermusik von Johann Sebastian Bach.
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Weil Milo Rau ein ernst zu nehmender Regisseur ist, weiß man nicht, ob es sich bei der plakativen Effektorientierung um blanke Ironie oder um den Versuch handelt, auch einmal im Gefühl zu baden. Wenn ganz am Ende der nach seinen Schlaganfällen schon reichlich derangierte Lenin mit seiner Krupskaja auf einem Bänkchen sitzt und verwirrt Wortfetzen vor sich hinmurmelt ("Wind... Wind... Wo... Wo... sind... Kinder...?") und die Krupskaja nur sagen kann, sie hätten keine Kinder, dürfte auch das eher an Ehedramen denn an Weltgeschichte interessierte Publikumssegment auf seine Kosten kommen.