Andreas Beck, der Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels, betritt nach dem Schlussapplaus die Bühne. Der Mann ist schwer angefasst. Das, was man eben sah, Büchners "Dantons Tod" in der Inszenierung von Sebastian Baumgarten, hätte schon in der vergangenen Saison herauskommen sollen. Dann kam der erste Lockdown, die Proben mit den 15 Mitwirkenden gingen per Video weiter. Schließlich wollte man die Produktion vor möglichst vielen Zuschauern präsentieren, das jedoch hieß dann 50. Und nun: null. Beck ruft: "Wir fordern Ihre Unterstützung!" Dafür kann man auf der Homepage der Freunde des Residenztheaters einen Brief an die Politik mitunterzeichnen. Der Staatsintendant pocht auf das Recht der Künstler, ihren Beruf auszuüben. Am Ende flattert seine Stimme: "Kommen Sie wieder. Wir spielen so gern für Sie."
Folgt man Georg Büchner, dann muss man das Theater als Bildungsanstalt, als unabdingbar notwendigen, demokratisch-diskursiven Raum begreifen. Am Ende von Baumgartens Inszenierung verwandelt sich der Schauspieler Thomas Lettow von seiner Figur Legendre in einen Dozenten. Er steht im Cordanzug vor dem gesamten Personal der Aufführung. Es hat sich mit äffischem Gehabe in dem wackligen Auditorium versammelt, das zuvor das Revolutionstribunal beherbergte. Seinen Zuhörern erklärt Lettow mit den Worten des Philosophen Boris Groys ein Paradox im Verhältnis von gesellschaftlicher Veränderung und dem Fortschritt von Kunst. Fortschritt schaffe die unablässige Zerstörung der Vergangenheit, Kunst sperre sich gegen Gebrauch, der Künstler indes ziele mit seinem Werk auf die Negation der historischen Endlichkeit. "Eine von der Hysterie des Überlebens beherrschte Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Untoten."
Die Revolutionäre, wie sie Büchner beschreibt, sehnen sich nach fortdauernder Wirkmächtigkeit, sie stehen vor dem Dilemma, wie es Platon formuliert: Besser ist es, von guten Männern regiert zu werden als von guten Gesetzen. Blöd ist, wenn beides nichts taugt.
Die beiden Antipoden, Danton und Robespierre, interessieren sich nur mäßig für das einfache Volk, auch wenn Robespierre zumindest die Idee einer sozialen Revolution formuliert. Danton will gar nichts mehr, hat das Morden satt und formuliert einen der vielen berühmten Sätze in diesem Stück: "Die Revolution ist wie Saturn - sie frisst ihre eigenen Kinder." Auf diesem Satz hat Sebastian Baumgarten seine Inszenierung aufgebaut. Sein Personal besteht aus den Untoten von Boris Groys.
Anfangs sehen sie noch ganz manierlich aus, schauen aus einem Haus heraus, das offenbar einst die Banque Nationale war, schreiben fleißig. Die Worte werden projiziert, sind aber kaum lesbar, man denkt an Büchners Kampfschrift "Der hessische Landbote", aber das ist es wohl nicht. Schließlich verschwimmt das Videointerieur wie unter Wasser, suggeriert ein Zeittunnel - und die Untoten treten auf.
Sebastian Baumgarten ist kein Regisseur, der verlegen im Umgang mit Theatermitteln ist. Er inszeniert viel und nun zum ersten Mal in München. Hierfür holt er sich die richtigen Leute, die alles können, was Theatertechnik hergibt. Thilo Reuther stellt einen Kasten auf die Bühne, der sich fleißig dreht, als wäre man in einer Castorf-Inszenierung: Eine Seite ist die Bank-Fassade, die Rückseite das Tribunal, über dem steht, die Wahrheit sei nicht verhandelbar. An den Schmalseiten prangt in Neon "Republique" oder grüßt Lenin. Chris Kondek zaubert mit Videos aller Arten, mit lebendigen Bildtapeten und Filmsequenzen in Stummfilmästhetik, lässt zwischen den Szenen fabelhafte Negativbilder von allen Revolutionen der Welt laufen. Bild und Ton - der Score stammt von Christoph Clöser - werden live gesteuert, dazu spielt Philipp Weiß auf dem Klavier kaum endende Improvisationen, die nur verdoppeln, was man ohnehin sehen und hören, empfinden kann. Das Merkwürdige ist, dass Baumgarten für lange Zeit gar nicht auf die klugen Worte Büchners hören will. Er folgt dem Stück, stellt ein bisschen was um, schiebt die beiden Monologe von Robespierre und Saint-Just am Ende des zweiten Akts dialogisch ineinander, nimmt Büchners Fatalismus-Brief und eben den Text von Groys auf, als gäbe es in "Dantons Tod" nicht genug tolle Sätze. Das ergibt dennoch einen Sinn, aber nicht, dass lange Zeit alle um ihr Leben brüllen, was vielleicht auf Groys' Idee von der Hysterie rekurriert.
Doch wer brüllt, dem hört man nicht zu. Hier schon gar nicht Florian von Manteuffel, dem Baumgarten eine monochrome Daueremphase verordnet. Das hat Verve, regt aber kaum zum Denken an und hat nichts von der Melancholie des Danton, der seine Julie liebt wie das Grab, weil im Grab Ruhe ist. Überhaupt hat Baumgarten eine Freude an konträren Besetzungen. Die an sich so wundervoll empathische Carolin Conrad spielt tapfer den eisigen Saint-Just, Hanna Scheibe muss als Chefanklägerin zu einem Roboter verkommen, tut dies mit Würde, während sich neben ihr ein echter Roboter bewegt wie ein stählerner Sisyphos. Lukas Rüppel ackert sich durch die Partie des Robespierre, Liliane Amuat postuliert als Lucile gleißend Menschlichkeit.
Der Zweifel Büchners an dieser Revolution, der längst verlorene Bedeutungskampf der Figuren, die sich in ihrem zerzausten Zustand ein paar hübsche Kleidungsstücke über die unkultivierten Leiber zogen - all das ist laut, dröhnend, überbordend. Doch dann: ein kleines Wunder. Sibylle Canonica spricht als Grisette Marion Worte des rein menschlichen Unglücks, jedes davon gedacht bis auf seinen Urgrund, anrührend, ergreifend.
Von da an wird die Aufführung durchlässiger, rhetorisch luzider, die Figuren heben sich nun ab von den projizierten Schatten, die das namenlose, dumme Volk sind. Die Mitglieder des Nationalkonvents finden nun in Unterhosen zu einem aufregenden Debattierzirkel zusammen, und doch geht es gar nicht darum, ob Danton Recht hat oder Robespierre. Es geht nur noch darum, dass alle Protagonisten der Revolution ihr Scheitern verhandeln.