Es riecht nach Tomate. Oder ist es doch eher Rote Beete? Auf jeden Fall ist der Geruch dick, ein bisschen unangenehm, aber keineswegs eine Zumutung. Zu Beginn der Aufführung richten sich die Schauspieler die Bühne her, kippen Eimer auf Eimer von Kunstblut auf den Lochgitterboden in der Spielhalle der Kammerspiele. Wobei sich einer der drei, Nils Kahnwald, vom Regieassistenten helfen lässt. Denn Kahnwald, Gast aus Zürich, sitzt im Rollstuhl - bei der Fotoprobe vor wenigen Tagen riss sein Meniskus im linken Knie. In einem halben Meter Tiefe bildet sich so langsam ein roter See aus Kunstblut. Der Musiker Christoph Hart trötet in eine Vuvuzela, in unerbittlichen Wellen rollt dazu synthetischer Lärm auf die Zuschauer zu. Nebel wabert, und aus einem Riesenrüssel wird buntes Konfetti in die Luft geblasen, legt sich nieder auf den schnell verklebten Boden.
Diese Inszenierung beginnt, als alle Figuren des Dramas schon tot sind
Christopher Rüping inszeniert "Hamlet" an den Kammerspielen. Im dünnen Programmzettelchen der Produktion steht, dass dessen Geschichte die eines "Radikalen" sei, "der fanatisch zur gewaltvollen Veränderung der Welt aufruft". Tatsächlich glaubt man an diese Deutung notgedrungen von Beginn an, und auch die darauf folgenden zwei Stunden sind eine eher unverzärtelte Veranstaltung. Sie mündet in einen Riesenzinnober mit noch mehr Blut, Fackelschein, Nebel und einer Musik, gegen die die Trompeten von Jericho wie ein Säuseln im Abendwind wirken.
Mit einer enormen Leere im Kopf steht man danach auf der Straße und rätselt, was Matthias Lilienthal, der Intendant der Kammerspiele, damit gemeint haben mag, als er Rüpings "Hamlet" als Befriedung der schauspielaffinen Alt-Abonnenten des Hauses ankündigte. Dennoch bleibt, bei all dem hohlen Pathos, das einen erst einmal mit völliger Leere ausfüllt, die Ahnung, man könne diesen Theaterabend nicht einfach als Unsinn abtun, so wenig Freude er zunächst auch machte.
Aus "Hamlet" wurde schon alles herausgelesen. Will man nicht den Reichtum der vielen Facetten der Hauptfigur abbilden, entscheidet man sich für den depressiven Grübler, für das Opfer einer geilen Familie, für den Killer. Rüping motiviert Letzteres gleich mal durch einen kurzen Abriss der Familiengeschichte, 300 Jahre Krieg zwischen Dänemark und Norwegen, vererbt jeweils vom Vater auf den Sohn. Die Motivation, selbst ins Mordgeschäft einzusteigen, braucht also keinen herumspukenden Vatergeist mehr, sie ist ohnehin angelegt, weit vor Hamlets Geburt.
Wenn Rüpings Bühnenerzählung beginnt, sind schon alle tot, und Horatio, der einzige Freund, den Hamlet hatte, wird beauftragt, dessen Geschichte der Nachwelt zu überliefern. Die Trias der hier anwesenden Schauspieler verkörpert also zunächst Horatio und wird angetrieben von den Worten auf einem LED-Schirm. Anfangs wird dort aufgezählt, wer alles tot ist, nämlich alle. Namen tauchen da auf, die kaum jemand kennt, weil sie zu Figuren gehören, die meist gestrichen werden. "Schauspieler", durchgestrichen, steht da auch einmal. Doch gemeint ist nicht die Absenz von Schauspielern in dieser Aufführung, sondern einfach das Verschwinden jener, die in "Hamlet" das Stück "Die Mausefalle" spielen. Das Stück also, mit dem Hamlet Claudius dessen eigenen Brudermord vorführt. "Die Mausefalle" gibt es hier auch, ziemlich früh, wie überhaupt Rüping den Originaltext beherzt umgestellt hat. Schnell also ist klar, was Sache ist, wobei sich diese Erkenntnis ja bereits in den ersten Minuten einzustellen beginnt.
Katja Bürkle, Walter Hess und Nils Kahnwald nehmen sich des guten Dutzends der benötigten Figuren an, erzählen von ihnen, verkörpern sie mitunter auch, sodass ein Geflecht aus Epik und Spiel entsteht, mit sehr viel Shakespeare, teils weitergedacht aus dem Geist des Stücks heraus und gewürzt mit einer Prise "Hamletmaschine" von Heiner Müller. Bürkle trägt die Hauptlast des grantigen, unzufriedenen, lauten, nervenden, herumbrüllenden und ganz und gar nicht sympathischen Hamlet, Kahnwald ist oft eine völlig verdutzte Ophelia, und Hess macht alles, auf eine herrlich kontrollierte und souveräne Art, mit der Wucht seiner Stimme, die dem Text alle Nuancen abtrotzt.
Der große "Sein oder Nichtsein"-Monolog ist hier von Sinn befreit
Ja, es ist auch Schauspielertheater, was man hier sieht, auch wenn Bürkle sich mitunter im Furor der Emotion verliert und die beiden anderen verblüfft danebenstehen. Beziehungsweise sitzen. Eine Szene ist anrührend: Bürkle lässt auf Kahnwald, als Ophelia und eben kniebeschädigt im Rollstuhl sitzend, Hamlets enorme Suada des (vermeintlichen) Hasses herabstürzen, die schon so, wenn auch ein wenig kürzer, bei Shakespeare steht, es endet kaum, und irgendwann ruft Kahnwald ganz leise den Regieassistenten herbei, darum flehend, endlich von der Bühne gerollt zu werden. Kahnwalds Handicap ist geschickt in die Aufführung eingebaut.
Also Shakespeare satt, hübsch eindimensional, aber mit Schmackes und unmissverständlich. Von den großen Monologen Hamlets bleibt vor allem "Sein oder Nichtsein", in vielen Variationen, gesprochen von den dreien, von Band, auf Deutsch, Englisch, von Oskar Werner oder Lawrence Olivier - ein Ausstellen eines ikonografischen Textes, befreit vom Sinn.
Überhaupt wird hier ausgestellt. Jeder Vorgang ist Behauptung, auch jede Haltung ist eine. Der Anlage nach könnte es ein hemmungslos lustiger Abend sein, vor allem mit der Kunstblutorgie vom Kanister im Bühnenhintergrund. Hier wird fleißig gezapft, und dann schütten sich die Schauspieler den Inhalt großer Eimer über den Kopf. Aber: Die Vorstellung ist brachial humorlos. Rüping meint alles ernst. Das ist ehrenwert. Und intellektuell kommt man seiner Idee vom Amok-Hamlet auch hinterher. Nur erfühlen kann man sie nicht. Sie bleibt eben: Behauptung.
Das rührt zwar ans Wesen des Theaters an sich, weil natürlich jeder Schauspieler, der eine Rolle verkörpert, diese behauptet. Aber muss man das vorgeführt bekommen, was jeder weiß?