"Der Platz" in Dortmund:Dialog mit der Leerstelle

SCHAUSPIEL DORTMUND
Der Platz

Fast scheinen sich Marlena Keil, Antje Prust, Mervan Ürkmez, Linda Elsner, Lola Fuchs und Raphael Westermeier hier selbst gerade zu fragen, warum sie Annie Ernaux' monologischen Text eigentlich zu sechst sprechen sollen.

(Foto: Birgit Hupfeld/Birgit Hupfeld)

Exakt, aber ohne rechte Bindung: Intendantin Julia Wissert versucht sich am Schauspiel Dortmund an einer vielstimmigen Inszenierung von Annie Ernaux' Memoirenkonzentrat "Der Platz".

Von Alexander Menden

Julia Wissert trat im vergangenen Jahr ihren neuen Posten als Intendantin des Schauspiels Dortmund unter denkbar schwierigen Bedingungen an. Ihre erste Regiearbeit "2170" war coronabedingt ein Stadtparcours unter freiem Himmel. Daher ist es nicht falsch, "Der Platz" nach der französischen Autorin Annie Ernaux als Wisserts eigentliche Einstandsinszenierung zu betrachten. Die Dramatisierung von Ernaux' 1983 erschienenen "autofiktionalen" Erinnerungen an das Leben und den Tod ihres Vaters in der ländlichen Normandie, an die Kluft zwischen seinem Leben in der unteren Mittelschicht und der zunehmend bürgerlichen Welt, zu der die Erzählerin durch Bildung Zugang fand, enthält thematisch viel von dem, was Wissert zu zeigen sich von Beginn an vorgenommen hatte. Nicht zuletzt die Öffnung des Theaters hin zu etwas, das relevant für den Ort ist, an dem es stattfindet. Sicher ist das postindustrielle Dortmund nicht der schlechteste Ort, um über die Sollbruchstellen zwischen Arbeiter- und Bürgerschicht nachzudenken.

Die bis zur Brandmauer freigelegte Bühne ziert nur eine kleine blaue Hütte, gefüllt mit Werkzeug und Mobiliar. Sie wird im Laufe von rund anderthalb Stunden zu einem Symbol dessen, was der Vater der Erzählerin erreicht hat im Leben, worauf er sich aber auch stets beschränkte: sein abgezirkeltes Leben als Bauernsohn, der erst in einer Seilerei arbeitet, dann einen mehr schlecht als recht laufenden Kramladen und eine Wirtschaft betreibt.

"Leitmotiv: Nicht zu hoch hinauswollen", heißt es im Text. "Ständig Angst, fehl am Platz zu sein." Fünf Darstellerinnen und zwei Darstellern obliegt es, diese Selbstbeschränkung auszuagieren und sie gleichzeitig als Inkarnation der Erzählerin zu überwinden.

Alles ist sehr konzentriert gespielt, das Ensemble agiert exakt, als Einheit.

Die grellfarbigen Kostüme, in die Mascha Mihoa Bischoff sie gesteckt hat, wirken wie eine signalhafte, bourgeoise Absetzung von der als einfach beschriebenen Kleidung des Vaters - weißes Hemd, Flanellhose. Übungen wie der angestrengte Spitzentanz, den Antje Prust vollzieht, oder Mervan Ürkmez' Anfall wilden Sich-frei-Tanzens sind die Sorte bürgerlicher Gesten, die der Vater sowohl mit ständigem Unterlegenheitsgefühl als auch mit verächtlichem Argwohn betrachtet. Oft stehen die Darsteller auch in einer engen Gruppe, wie um die Einheit der Person zu betonen, die hier spricht. Der Vortrag ist ruhig, ganz gleich, ob von der rührenden Bewunderung der Eltern für den Politikstudenten die Rede ist, den die Tochter ihnen als ihren zukünftigen Schwiegersohn vorstellt, oder vom Dahinscheiden des Vaters. Alles ist sehr konzentriert gespielt, das Ensemble agiert exakt, als Einheit.

Die grundlegende Frage, die sich stellt, lautet dennoch, warum angesichts der Vorlage überhaupt mehr als eine Darstellerin nötig ist: Man kann Ernaux' schmales Buch als Monolog lesen oder als Dialog mit einem Abwesenden, mit der Leerstelle, die der Vater hinterlassen hat. In jedem Fall ist es ein Konzentrat, das gerade von seiner Schmucklosigkeit lebt. Es benötigt weder dramatische Ergänzungen noch Vielstimmigkeit.

Natürlich birgt die Diskrepanz zwischen der solistischen Schlankheit des Textes und seiner Aufspaltung in mehrere Personen einen gewissen Reiz. Natürlich kann man das als Überhöhung der persönlichen Erfahrung hin zu gesellschaftlicher Allgemeingültigkeit lesen. Doch letztlich mangelt es an zwingender inszenatorischer Bindung an einen Text, der sich mehr nach innen kehrt, als es Wisserts fraglos dezent strukturierte Bühnenproduktion zu leisten vermag.

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