Süddeutsche Zeitung

"The Wild Pear Tree" im Kino:Ein Moment, der nach Glück aussieht

Tragikomische Sinnsuche im Hinterland zwischen Camus und Columbo: der türkische Kinofilm "The Wild Pear Tree" von Regisseur Nuri Bilge Ceylan.

Von Philipp Stadelmaier

An der Innenseite der Türe von Sinans Kleiderschrank hängen Fotos von Albert Camus und Inspektor Columbo. Der Schriftsteller, der die Vergeblichkeit der Sinnsuche zu Eckpfeilern der Erfahrung des modernen Menschen erhoben hat. Und der verschlafene Detektiv der legendären amerikanischen Fernsehserie, gespielt von Peter Falk. Bei der ersten Begegnung halten ihn die Leute oft für einen Trottel, bis er beim Lösen seiner Fälle dann doch seine messerscharfe Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis unter Beweis stellt.

Die Einsicht in die Hoffnungslosigkeit des eigenen Strebens und der Wunsch nach Anerkennung für den gnadenlosen Blick auf die Menschen - das sind die beiden Pole, zwischen denen sich Sinan (Doğu Demirkol) bewegt. Der junge Mann, der ein Schriftsteller sein will, kommt vom Studium zurück zu seinen Eltern in eine Provinzstadt in der Westtürkei.

Er will hier nicht "verrotten", wie er sagt, und am liebsten nur schnell wieder weg. Er hat Pläne, er will leben. Aber das Leben fesselt ihn doch erst mal an seine ungeliebte Heimat.

Der neue Film des türkischen Filmemachers Nuri Bilge Ceylan, "The Wild Pear Tree "), der 2018 im Wettbewerb des Filmfestivals in Cannes lief, ist nun auch in den deutschen Kinos zu sehen. Auch wenn es nur ein paar wenige Kinos sind, die ihn zeigen, während sich die Branche nach der Corona-Pause langsam dem Normalbetrieb annähern möchte. In jedem Fall ist er eine hervorragende Wahl, um die Augen wieder an die große Leinwand zu gewöhnen.

Ein Studienkollege ist begeistert: Als Polizist könne man wenigstens linke Studenten verprügeln

Womit füllt man ein Leben, wenn die eigenen Träume und Hoffnungen unendlich weit entfernt scheinen? Und womit füllt man einen drei Stunden langen Film über einen solchen Träumer?

Ceylan, spiritueller Nachfahre von Ozu Yasujirō und Anton Tschechow, kennt die Antwort. Man füllt sie mit den einfachsten Gesten: Sprechen, Sitzen, Stehen, Gehen. Man muss nur wissen, wie man all das filmt, um das Alltägliche, Langweilige und Gewöhnliche in Filmkunst zu verwandeln.

Sinan hat wenig zu tun. Er ist bei seiner Familie, liegt auf der Couch, liest. Er streift durch die Stadt und durch die Felder, wo er auf eine alte Jugendfreundin trifft. Plötzlich fährt die Kamera von einer anderen Seite auf die Frau zu, der Wind hebt an, ihre Haare wehen vor ihrem Gesicht, die Sonne funkelt durchs bunte Herbstlaub - sie küssen sich. Der Film versinkt in einem Moment, der nach Glück aussieht und es doch nicht ist. Aber manchmal muss man mitnehmen, was man kriegen kann, und den Rest darüber vergessen.

Denn der Rest besteht aus Tristesse. Sinans Vater ist ein Träumer - und pleite. Er verspielt sein Geld bei Pferderennen, die Mutter hat seine Bankkarte eingezogen. Auf einem verödeten Familiengrundstück gräbt der Vater einen Brunnen, um Wasser zu finden, da er den Ort in eine grüne Oase verwandeln will. Doch da unten ist nichts, nur Stein und Geröll.

Sinan scheint eingespannt in denselben Kreislauf ewigen Scheiterns. Er absolviert eine Lehrerprüfung und fällt durch. Soll er stattdessen Polizist werden? Ein Studienkollege, der diesen Karriereweg eingeschlagen hat, erzählt ihm am Telefon lachend, wie er bei Demonstrationen linke Studenten verprügelt. Sinan lacht mit, legt auf, geht in ein Café und schaut Leuten beim Spielen und Rauchen zu.

Ansonsten versucht er, Geld aufzutreiben, um ein Buch zu publizieren, das er geschrieben hat und das ebenso heißt wie der Film: "Der Birnbaum". Ein Buch über die Gegend und die Leute, aus seiner Sicht. Der Bürgermeister würde ihm das Geld geben, wäre es nur ein Touristenführer. Der patriotische Baugrubenunternehmer würde ihn unterstützen, wäre es nur patriotischer. Aber diese subjektiven Eindrücke eines jungen Mannes - wer soll sich dafür interessieren?

Das Columbo-Moment für ihn, der stets als seltsam empfunden wurde, bleibt jedenfalls aus (bis auf ein kleines, aber zärtliches Schulterklopfen am Ende). Bei einem Treffen mit einem erfolgreichen Lokalschriftsteller weigert er sich dennoch, über den Inhalt zu reden, er hat Angst, der andere könne ihm seine Ideen stehlen.

Diese Besessenheit von der eigenen Wichtigkeit, gepaart mit einer Verachtung für die "dumme Landbevölkerung" und den erfolglosen Vater, verbindet ihn mit einer anderen Figur in Ceylands Werk. In "Winterschlaf", für den der Filmemacher 2014 in Cannes die Goldene Palme gewann, hegt ein Hotelbesitzer ebenfalls literarische Ambitionen, während er die Leute in seiner Umgebung schlecht behandelt und sich für ihre Armut unter rein philosophischen Gesichtspunkten interessiert. Doch aus der Antipathie seiner Hauptfiguren schöpft Ceylan die sinnliche Fülle, die seine Filme auszeichnet. Die Landschaft, das Licht, die Tiere, der Wind, die Menschen: alle Elemente des Films, die Ceylan so wunderbar filmt, werden für Sinan zu einer überpräsenten Schönheit, die ihn verzweifelt zurücklässt.

Sie werden zu Zeichen seiner Demütigung, immer noch an diesem Ort festzusitzen. Und sie zeigen seine Unfähigkeit, ihnen gegenüber eine Demut zu entwickeln, und sich dort einzurichten, wo er nun mal ist.

Ahlat Ağacı, Türkei / Nordmazedonien/ Bosnien und Herzegowina/Bulgarien/Schweden /F/ D, 2018 - Regie: Nuri Bilge Ceylan. Buch: Ceylan, Akin Aksu, Ebru Ceylan. Kamera: Gökhan Tiryaki. Mit Aydin Doğu Demirkol,Murat Cemcir, Bennu Yıldırımlar. Kinostar, 188 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 23.06.2020/cag
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