Süddeutsche Zeitung

Neues Album von The Weeknd:"Dawn FM" hören und sterben

Lesezeit: 4 min

The Weeknd, der Sänger der blitzenden, schwitzenden, drogenhungrigen Megahits, hat ein Konzeptalbum gemacht: ein Radioprogramm, das man nach dem eigenen Tod hören kann.

Von Joachim Hentschel

Auf "Dawn FM", dem neuen Album des Sängers, Songwriters und Superstars Abel Tesfaye alias The Weeknd, gibt es nur ein einziges Stück, auf dem seine Stimme nicht zu hören ist. Und ausgerechnet das ist der Song, der den stärksten emotionalen Eindruck hinterlässt, wenn es hier nach 52 Minuten Musik wieder still wird. Man kann sich zwar fragen, ob Popmusik in der extrovertierten, eher kurzgeatmeten und nutzerfreundlichen Art, um die es bei The Weeknd in der Regel geht, überhaupt dem Anspruch genügen muss, auch noch gefühlsecht, anrührend und all die Dinge zu sein, die man sonst eher über portugiesische Beiträge zum Cannes-Festival sagt. Aber "Dawn FM" will das, man merkt es.

Der Song, der gemeint ist, heißt "A Tale By Quincy", und der Titel sagt es schon: Man hört hier, wie Quincy Jones eine Geschichte erzählt. Jones, 88, der überlebensgroße Komponist, Produzent und unter anderem Studiovater des Michael-Jackson-Sounds, spricht über Kindererziehung und die Frage, wie stark man dabei von unterschwelligen Lebenserfahrungen geleitet wird. Im Hintergrund läuft eine sahnige Soul-Berieselung, während der alte, kluge Mann erzählt, wie seine Mutter in eine geschlossene Nervenklinik eingewiesen wurde, als er sieben war, und wie dieses Erlebnis dauerhaft seine Beziehungsfähigkeit gestört hat. Jones klingt gelassen und sachlich, nicht selbstmitleidig, nicht opfermythisch. "Looking back is a bitch, isn't it?", schiebt er zum Schluss hinterher und lacht rasselnd und jovial. Wer in die Vergangenheit schaut, sieht gemeine Sachen, aber was soll's?

Seine Musik? Aus Neonröhren gebauter, auf regennasser Fahrbahn dahinbretternder Synthiepop

Um Themen dieser Gewichtsklasse geht es auch dem Popkünstler Abel Tesfaye, obwohl man das nicht gleich vermuten würde, wenn man seine blitzenden, schwitzenden, pumpenden, millionenfach gestreamten Megahits der vergangenen Jahre hört. Auch "Dawn FM", dem achten The-Weeknd-Album, sieht man die mindestens vier oder fünf potenziellen Superknaller schon aus mehreren Kilometern Entfernung an. Trotzdem ist es als introspektiver Zyklus mit Konzept und Klammer angelegt, als Konfession eines emotional Geschüttelten und Geläuterten.

Viele Menschen glauben ja, sie würden The Weeknd gar nicht kennen, aber auch sie kennen ihn natürlich. Seinem Song "Blinding Lights" von 2019 entkommt man bis heute nicht - diesem aus gewaltigen Neonröhren gebauten, im siebten Gang auf regennasser Fahrbahn dahinbretternden Synthiepop-Ohrwurm, der klingt, als hätte man ein komplettes "Grand Theft Auto"-Spiel ins Herz eines Nummer-eins-Hits von circa 1985 hineinoperiert. Er holt einen ein, egal, wo man hinrennt.

Dabei ist The Weeknd kein Retro-Act, sondern so jetztzeitig wie wenig andere Millionen-Bestseller. Er begann um 2010 als anonymer, vom Heimbüro in Toronto aus arbeitender Neo-R'n'B-Künstler im Netz. Lud die ersten Alben gratis hoch, ließ im Pseudonym das hintere e weg. Es gab ja bereits eine Band namens The Weekend.

Schon der Do-it-Yourself-Erfolg war so eminent, dass er heute, mit 31, längst ins großkalifornische Star-Establishment hineingewachsen ist. Die Zahlen werden zwar immer bedeutungsloser, aber laut Statistik hat er bisher 75 Millionen Albumeinheiten verkauft und in den USA sechs Nummer-eins-Hits gelandet. Außerdem gewann er drei Grammys, und mutmaßlich wird es dabei auch bleiben. Als Tesfaye 2021 für seine elefantös erfolgreiche Platte "After Hours" keine Nominierung bekam, beschuldigte er die Akademie (durchaus verständlicherweise) der Schiebung und kündigte an, in Zukunft nie mehr ein Werk einzureichen.

Dabei hätte "Dawn FM" (Universal Music) sicher beste Preischancen. Abgesehen davon, dass Aufmerksamkeit und Erfolg fraglos gigantisch sein werden, folgt das Album einer großartigen, cineastisch angehauchten Idee: Er habe die Platte, erklärte der Künstler in einem Interview, konzipiert wie ein Radioprogramm, das man nach dem eigenen Tod hören könne - ein Reisebegleiter für die Seele, falls es auf dem Weg vom Sterbebett ins Jenseits einen Verkehrsstau geben sollte. Auf dem Cover zeigt er sich selbst als Greis, gut gealtert. Die Moderatorenstimme, die ab und zu kleine Ermutigungen durchsagt, spricht Jim Carrey, und zwischendurch wird ein Werbespot für den fiktiven Kinofilm "Afterlife" abgefahren.

Was gute Dramaturgie und Erzählideen betrifft, ist The Weeknd ein Meister.

Dem Konzept nach wäre "Dawn FM" also die allerletzte musikalische Ölung. Und da man auf einem solchen Weg wohl eher keinen vertrackten digitalen Glitsch oder freiförmigen Free Jazz hören will, ist die Mischung auch hier absolut stimmig. Neben den besagten Hitbrettern, die Tesfaye mit unvermeidlichen Profis wie Max Martin, Swedish House Mafia oder dem Experimentalisten Oneohtrix Point Never als typische 80er-Disco-Schnellschüsse produziert hat, entwickeln gerade die etwas betulicheren Schmelz- und Schaumballaden ein gewisses magisches Potenzial. Es gibt durchaus schlimmere Vorstellungen als die, dass das ätherische, von Tesfayes uneingeschränkt flügelstarker Falsettstimme getragene "Starry Eyes" der letzte Song sein könnte, den man hört, bevor das ewige Licht einen herunterschluckt.

Der früher unsichtbare The Weeknd ist mittlerweile auch zur öffentlichen Kunstfigur geworden, die in Videos und bei der jüngsten Super-Bowl-Halbzeitshow im roten Sakko tanzt, als optische Kreuzung aus Karl Lagerfeld und dem Boxmanager Don King, und mitunter bizarre Dinge tut: an großen Kröten lecken, zum Beispiel. Oder Leute erschießen.

Der ständige Wunsch nach Selbsterneuerung, die aber immer wieder im Rückfall endet

Abel Tesfaye hat seinem Popcharakter viele Züge aus der eigenen Biografie eingebrannt: die rastlose Promiskuität. Den Drogenhunger. Dazu den ständigen Wunsch nach Selbsterneuerung, die aber immer wieder im Rückfall endet. In seinen Inszenierungen ist The Weeknd das Protobeispiel für das soziale Phänomen, das man heute Incel nennt: der einsame Mann, der um Anschlussfähigkeit ringt, sich dabei aber immer wieder in der eigenen Eitelkeit verfängt. Und seinen Frust in Erniedrigungsfantasien gegen den Rest der Gesellschaft steckt, vor allem gegen die Frauen, die ihn scheinbar so schlecht behandeln.

Und was diese Motive betrifft, hat sich The Weeknd auf "Dawn FM" nicht wirklich vom inhaltlichen Fleck bewegt. Die Aufforderung an die Geliebte, ihn nach dem Überdosistod einfach ins Laken zu wickeln und zu verbrennen, gehört noch zu den poetisch einfallsreicheren Bildern. Jedes Bittgebet um Läuterung und Reinigung relativiert sich nun mal, wenn zwei Strophen später die nächste Süße mit den Geldbündeln ins Bett gewinkt oder ein gesamtes, peinliches Lied lang mit einer attraktiven Kandidatin über den Ehering debattiert wird, den sie am Finger trägt. Was alles nicht dadurch besser wird, dass sich auch noch der Rapper Lil Wayne ins Gespräch einmischt. Es ist der gewohnte Hip-Hop- und R'n'B-Content, nichts dagegen. Aber hier reduziert er das ansonsten grandios realisierte Konzept zur mehr oder weniger reinen Kunstkosmetik.

Am Ende von "Dawn FM" würde man dann am liebsten noch einen koffeinfreien Cappuccino für Quincy Jones bestellen und ein bisschen mehr über dessen Jugend und die böse Stiefmutter erfahren. Aber er hat natürlich Besseres zu tun.

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