Süddeutsche Zeitung

Horrorfilm "The Wasteland - Die Einöde" auf Netflix:Ich sehe was, was du nicht siehst

"The Wasteland - Die Einöde" von David Casademunt ist der nächste gelungene Streich aus der Horrorwerkstatt spanischer Filmemacher, die auf Netflix große Erfolge feiern.

Von Nicolas Freund

Ist da etwas? Endlos zieht sich die öde Steppe von der Blockhütte bis zum Horizont. Ein paar krude, unheimliche Vogelscheuchen markieren die Grenze des Grundstücks, das der junge Diego nicht verlassen darf. Denn dahinter, erzählt sein Vater, tobt der Krieg. Auch wenn man den Krieg nicht sehen und nicht hören kann. Und noch schlimmer als der Krieg ist das Monster, das angeblich auch dort draußen lauert.

Es ist Spanien, irgendwann im 19. Jahrhundert, aber es könnte auch der Wilde Westen oder das Mittelalter sein, abgesehen von dem Gewehr, mit dem sich die kleine Familie im Notfall verteidigen möchte. Wenn etwa das Monster am Horizont erscheint und näher kommt, immer näher. Aber Moment, kann man da wirklich etwas erkennen? Diego, und mit ihm der Zuschauer, ist nicht ganz sicher, ob da etwas zu sehen ist. Aber nur weil man etwas nicht sehen kann, heißt das ja noch lange nicht, dass da nichts ist.

Netflix landete im vergangenen Jahr mit dem spanischen Thriller "Der Schacht" einen Überraschungshit. Es ging um ein futuristisches Gefängnis aus 333 Stockwerken, durch die einmal am Tag von oben nach unten ein festlich gedeckter Tisch mit Nahrung hinabgelassen wird. Wer oben einsitzt, hat Glück, wer weiter unten sein Dasein fristet - tja.

Das war etwas irre, aber klar gesellschaftskritisch, außerdem drastisch gefilmt und ein wenig an den Kult-Horror-Film "Cube" angelehnt. Und kam wahnsinnig gut an. Überhaupt ist der spanische Horrorfilm ja spätestens seit dem Found-Footage-Zombie-Film "[Rec]" von 2007 eine eigene Marke geworden. Die Erwartungen sind also da, und "El páramo / The Wasteland", der im deutschen etwas lahm "Die Einöde" heißt, ist viel ausgeruhter und nachdenklicher geworden, als man es nach diesen anderen Filmen erwartet hätte. Obwohl, das kann man schon sagen, auch noch genug Blut fließt.

Diego möchte von den Kriegs- und Monstergeschichten seines Vaters am liebsten gar nichts wissen. Auch das Gewehr, in dessen Schaft der Vater liebevoll Diegos Namen geschnitzt hat, interessiert ihn nicht besonders. Er spielt eher mit seiner liebevollen Mutter (Inma Cuesta) und den flauschigen Hasen im Stall. Bald wird auf dem nahen Fluss ein Boot mit einem verwundeten Soldaten angeschwemmt. Ist der Krieg doch noch in dem Exil der Familie angekommen?

Die Mutter feuert ständig aus dem Fenster. Aber warum?

Der Soldat erholt sich bald, ist aber so traumatisiert, dass er sich selbst ein sehr großes Loch in den Kopf schießt. Der Vater packt die Leiche aufs Pferd und reitet los, um sie den Angehörigen zu bringen, aber nicht ohne vorher gewissenhaft den Revolver des Soldaten zu laden. Will er wirklich nur für ein angemessenes Begräbnis sorgen? Oder ist es doch der Krieg, der ihn ruft, weg von seiner Frau und dem Muttersöhnchen, mit dem er nichts anfangen kann?

Die Mutter jedenfalls kann das Monster auch sehen, das angeblich irgendwo da draußen lauert. Ständig feuert sie mit dem Gewehr auf die Vogelscheuche und aus dem Fenster auf den leeren Horizont. Wieder beginnen Diego und die Zuschauer zu zweifeln. Man sieht nichts, aber das heißt im Film ja nicht viel. Es gehört inzwischen sogar fast zur Konvention des Horrorfilms, das Monster erst ganz am Ende zu zeigen. Und sehen diese ganzen Schnitzfiguren, mit denen die Hütte bevölkert ist, im flackernden Schein des Kaminfeuers nicht auch unheimlich lebendig aus? Der Kameramann Isaac Vila hat hier jedenfalls eine ganze Reihe an Bildern geschaffen, die man so schnell nicht vergisst.

Die Bilder helfen auch darüber hinweg, dass "El páramo" in der Mitte etwas repetitiv geraten ist. Dass die Mutter langsam durchdreht, hat auch Diego schneller kapiert, als es der Film seinen Zuschauern zutraut. Diegos Angst im Angesicht der verrückten Mutter, des fehlenden Vaters und des unsichtbaren Monsters spielt der erst zehn Jahre alte Asier Flores, der seinen ersten Filmauftritt vor zwei Jahren in "Leid und Herrlichkeit" von Pedro Almodóvar neben Penélope Cruz hatte, ganz hervorragend. Filme stehen und fallen ja mal gerne mit ihren Kinderdarstellern, und selten ist ein junger Schauspieler so überzeugend wie hier.

Aus der Figur Diegos und seiner Mutter entwickelt der Film dann eine kleine Psychologie der Angst und des Erwachsenwerdens. Hat das Monster vielleicht doch etwas mit dem Krieg zu tun? Geht es vielleicht um zwei Seiten derselben Sache? Und was ist unheimlicher - das Fehlen der Eltern oder das Auftauchen des Monsters? Die Mutter scheint jedenfalls mit ihrem immer irrer werdenden Geballer den Krieg längst ins Haus geholt zu haben. "El páramo" wird immer mehr zu einer fiesen Coming-of-Age-Geschichte, die das Thema des Loslassens variiert. Schon am Anfang spielt Diego unter der Bettdecke Verstecken mit den unheimlichen Holzschnitzfiguren. Sehen, nicht sehen. Da, weg. Ein harmloses Kinderspiel. Aber oft ist ja das, was nicht da ist, gerade ganz besonders präsent.

El páramo, Spanien 2021 - Regie: David Casademunt. Buch: David Casademunt, Martí Lucas und Fran Menchón. Kamera: Isaac Vila. Mit: Asier Flores, Inma Cuesta, Roberto Álamo. Netflix, 92 Minuten.

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