"The Velvet Underground" von Todd Haynes auf Apple TV+:Ein Schatz wird gehoben

Lesezeit: 3 min

Todd Haynes hat einen Dokumentarfilm über "The Velvet Underground" gemacht, der das New York der Sixties feiert und den Mangel an Live-Aufnahmen genial überspielt.

Von Anke Sterneborg

Reine Aura, nüchtern und unverstellt. Schon ganz früh im Film sind diese besonderen Bilder zu sehen, von Lou Reed und John Cale, diesen beiden in ihrer Jugend so unnahbar coolen Loner in Schwarz. Später kommen noch die anderen Bandmitglieder dazu, die ätherische Sängerin Nico, die erdige Drummerin Moe Tucker, der Gitarrist Sterling Morrison. Sie stehen vor Andy Warhols Kamera, in den berühmten "Audition Tapes" der Factory, in denen es darum ging, nichts zu machen. Nicht reden, nicht spielen, nicht kokettieren, nicht herausfordern.

Man merkt also kaum, dass es keine Fotos sind, sondern Filmbilder. So schauen sie aus den frühen Sechzigern in New York herüber zu uns, pure Essenz, eigentümlich in sich ruhende Intensität. Und genau darin liegt das Geheimnis von Todd Haynes' Dokumentarfilm "The Velvet Underground", der mehr ist als nur die Geschichte einer legendären Band, weil er auch die elektrisierende Zeit ihrer Entstehung einfängt. Haynes gelingt hier das Kunststück, ein riesiges Fenster zu öffnen, einen Schlund geradezu, der die Zuschauer einsaugt und ganz unmittelbar hineinzieht in ein pulsierendes New York, in dem sich Malerei, Film, Musik, Performance und Happening gegenseitig inspirierten, beflügelten, verzehrten. Der Film empfindet das nach in explodierenden Bildern und sirrenden Tönen, die sich in Split-Screen- und Sound-Design-Kompositionen überlappen.

Musiker und Musik haben den Regisseur Todd Haynes schon immer fasziniert, bisher aber vor allem in Spielfilmen wie "The Karen Carpenter Story", "Velvet Goldmine" und "I'm Not There", in dem er den quecksilbrigen Bob Dylan in acht Persönlichkeiten aufsplittete und acht verschiedenen Schauspielern anvertraute, darunter mit Cate Blanchett auch einer Frau. Bei dieser Dokumentation hat er sich nicht davon abschrecken lassen, dass es kaum Konzert- oder Probenmitschnitte von The Velvet Underground gibt, sodass die irren Bilderströme, die man von Rock-Dokus heute gewohnt ist, hier fehlen. Stattdessen hebt Haynes einen viel größeren Schatz, der in Kunst-, Film- und Fotoarchiven ruhte, insbesondere im Warhol-Museum, weil in dessen Factory immer irgendwelche Kameras liefen oder klickten.

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John Cale zeigt sich in einer Mischung aus Eleganz und Zerbrechlichkeit

Aus der Fülle der experimentellen und dokumentierenden Bilder, die Künstler und Filmemacher wie Andy Warhol, Stan Brakhage, Maya Deren, Oskar Fischinger, Jonas Mekas, Kenneth Anger und Taylor Mead damals aufzeichneten, komponiert Haynes zusammen mit seinem Stamm-Editor Affonso Gonçalves (der die Zeit auch in der genialen ersten Staffel von "True Detective" in besonderer Weise gebogen hat) ein einzigartiges Bild jener Zeit. Aktuelle Interviews mit Zeitzeugen gibt es auch, aus der Band, aus der Factory, aus der Szene. Auch hier entstehen immer wieder begnadete Momente.

Da ist etwa der charismatische John Cale, der sein musikalisches Credo erläutert, eine Mischung aus Eleganz und Zerbrechlichkeit. Er spricht auch über das Glück, sich um so etwas wie 'Gib mir ein A' nie kümmern zu müssen: "Der einzige stabile Ton, auf den wir uns verließen, war das gleichmäßige Brummen eines Kühlschranks." Der sonst eher interviewscheue Jonathan Richman kann mitreißend charmant den besonderen Sound der Velvets, den er in rund siebzig Konzertbesuchen in sich aufgenommen hat, mit Akustikgitarre und Stimmmodulation vorführen. Und die immer noch betörend schöne Factory-Muse Mary Woronow mokiert sich über die Hippiekultur: "We hated hippies! Flower power, burning your bras? What the fuck is wrong with you?"

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Der Film breitet eine Fülle von Informationen aus, zum Beispiel darüber, wie John Cale und Lou Reed zueinander gefunden haben, in der Verbindung von klassischen Tönen und morbiden Texten, aus dem Geist von Paganini und Wagner, Rimbaud und Baudelaire. Man erfährt, wie Barbara Rubin Andy Warhol in eines der ersten Konzerte lotste, was dazu führte, dass die erste LP das berühmte Bananen-Cover bekam. Synergien werden sichtbar, aber auch Sprengkräfte: Lou Reed war der düster unberechenbare Star, der erst Nico, dann Warhol und schließlich auch John Cale feuerte. Im aufmerksamen Blick von Todd Haynes erfährt Cale die überfällige Rehabilitierung.

The Velvet Underground , USA 2021 - Buch und Regie: Todd Haynes. Kamera: Ed Lachman. Schnitt: Affonso Gonçalves. Mit: Lou Reed, John Cale, Andy Warhol, Nico. Apple TV+, 121 Minuten. Starttermin: 15. Oktober 2021.

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