"The Unforgivable" im Kino und auf Netflix:Sandra Bullock als furchterregender Cop Killer

Lesezeit: 4 min

Wie vom Leben gepeitscht: Sandra Bullock als Polizistenmörderin Ruth Slater im Netflix-Film "The Unforgivable". (Foto: Kimberley French/Netflix)

In "The Unforgivable" spielt sie eine Polizistenmörderin, die in ein höllisches Leben in Freiheit hineinstolpert. Das Drama ist der erste internationale Film der deutschen "Systemsprenger"-Regisseurin Nora Fingscheidt.

Von Tobias Kniebe

Man erschrickt ein wenig, wenn man Ruth Slater ins Gesicht blickt. So wie ihr Bewährungshelfer am Anfang des Films, als sie gerade aus dem Gefängnis entlassen wird, nach einer zwanzigjährigen Haftstrafe. Dieses Gesicht ist eingefallen und fahl und trotzig und verquollen, wie vom Leben gepeitscht. Die Augen hat sie schmal zusammengekniffen, licht- und hoffnungslos. Man braucht einen Moment, um zu begreifen, dass dies tatsächlich Sandra Bullock ist, Amerikas patente Traumfrau von nebenan.

Eingerahmt wird dieses Gesicht von Bild- und Tonfetzen aus Ruth' Vergangenheit, die ihre Geschichte in dem Film "The Unforgivable" zusammensetzen. Eine Farm mit Pferden. Ruth, fast erwachsen, dazu eine Schwester, etwa fünf. Ein Vater, der Suizid begeht. Ein Sheriff und seine Männer, eine Zwangsräumung. Ruth, die hysterisch fleht, dass ihr die Schwester nicht weggenommen wird. Ein Gewehr an der Wand und Ruths Schwur, sie werde es auch benutzen. Am Ende der Sheriff, ein freundlicher älterer Mann, erschossen am Treppenaufgang.

Eine Polizistenmörderin also. Eine Frau, die sich nicht mit den Erniedrigungen abfinden konnte, die der gesellschaftliche Abstieg einer amerikanischen Familie mit sich bringt. Auch wenn man sich dazu nicht den treibenden Beat vorstellen darf, zu dem Bob Marley sein "I Shot the Sheriff" sang, als Hymne der Selbstverteidigung gegen ewige Unterdrückung - so ist diese Frau dennoch eine Systemsprengerin.

Das Leben im Gefängnis war schlimm. Aber das Leben in Freiheit ist fast noch schlimmer

Und so erklärt sich praktisch auch von selbst, wie die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt hier ins Spiel gekommen ist. In einem Projekt von Graham King, dem britischen Produzenten vieler Martin-Scorsese-Filme und anderer Großproduktionen, und von Sandra Bullock, die hier nicht nur die Hauptdarstellerin ist, sondern auch den Titel "Producer" trägt.

"Systemsprenger" hieß Fingscheidts starkes, unerbittlich realistisches Spielfilmdebüt über ein neunjähriges, seelisch verletztes, hochaggressives und trotzdem liebenswertes Mädchen. Damit gewann sie 2019 einen Berlinale-Bären und viele weitere Preise und machte international auf sich aufmerksam. Eine dieser seltenen Gratwanderungen im Kino, die auch mal gelingen. Für dasselbe Kunststück der Einfühlung wurde ihr nun die Geschichte dieser Mörderin anvertraut, und ein Star wie Viola Davis war bereit, in einer winzigen Nebenrolle dabei zu sein.

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Das Leben in Freiheit, in das Ruth hineinstolpert, zeigt sich höllisch. Etwa das von Kämpfen, Kreischen und Zynismus erfüllte Übergangswohnheim, in dem ihr ein Stockbett zugewiesen wird und andere Frauen sofort ihre Sachen durchwühlen. Oder die Fischfabrik, in der sie einen Job bekommt, ohne Einweisung an den gefährlichen Maschinen. Selbst auf dem Bürgersteig dieser mitleidlosen Welt scheint sie jeder rücksichtslos anzurempeln. Vergleicht man das mit "Systemsprenger", wo jeder Ton mit größter Sorgfalt gesetzt war, wirkt diese Inszenierung zugespitzter und greller.

Ruth erscheint in alldem schwer angeschlagen, aber rational und vollkommen zurechnungsfähig. Dass die Söhne des getöteten Sheriffs offenbar auf Rache sinnen und sie mit anonymen Anrufen bedrohen, nimmt sie schulterzuckend hin. Ihr größter Wunsch ist es, ihre kleine Schwester wiederzusehen, die nach dem Mord in eine Pflegefamilie kam. Seitdem wird Ruth von ihr ferngehalten, zahllose Briefe blieben unbeantwortet, haben ihre Adressatin vielleicht nie erreicht.

So lebt Ruth in Erinnerungen, etwa an den Moment, in dem sie sich der Polizei ergeben und von der Schwester Abschied nehmen musste. Da hatte sie ihr ein riesiges Stück Torte gekauft und sie mit dem Rücken zum Fenster des Diners hingesetzt. Man sieht das ahnungslose Kind mit den Backen voller Kuchen, während Ruth aus dem Bild verschwindet, dann draußen wieder auftaucht und von Polizisten zu Boden gebracht wird, in einem starken, in die Tiefe gestaffelten Bild.

Das Leben der Schwester, die jetzt erwachsen ist, wird auch gezeigt. Katie ist behütet aufgewachsen, in einer eher überbesorgten Ersatzfamilie. Die Vergangenheit ist in ihrem Kopf offenbar ausgelöscht, so vollständig, dass sie von Ruth nichts mehr weiß, und die Adoptiveltern denken auch nicht daran, das zu ändern. Ruths Briefe quellen ungelesen aus einem Schubfach. Vielleicht zu Katies Schutz: Sie ist begabt, bereitet sich konzentriert auf ein Klavierstudium vor.

Ruth aber gibt nicht auf, sie findet einen Anwalt. Der arrangiert ein Treffen mit den Eltern, das schnell eskaliert, als diese weiter blockieren. Dabei drängt sich die Frage auf, warum Katie wie ein unmündiges Kind behandelt wird - nach der Logik des Films ist sie 25 Jahre alt und müsste solche Entscheidungen selbst treffen. Vermutlich ist diese Unstimmigkeit aus der Vorlage eingeschleppt, Sally Wainwrights "The Unforgiven" von 2009, ein englischer Fernseh-Dreiteiler, in dem die Haftzeit der Mörderin allerdings eben deutlich kürzer war.

Vom Leben zu Boden gebracht: Sandra Bullock in "The Unforgivable". (Foto: Kimberley French/Netflix)

Das größere Fragezeichen, das ungelöst über allem schwebt, ist aber ein anderes: Wie ist Ruth überhaupt zur Mörderin geworden? Keine Frau, die annähernd bei Sinnen ist, würde einem dicklichen älteren Sheriff, der seine Waffe gar nicht gezogen hat, aus nächster Nähe in den Kopf schießen. Nicht einmal dann, wenn er die Kellertür aufbricht. Man müsste also Zeichen von Auflösung und mentaler Instabilität in dieser Figur sehen, wenigstens als Anlage, wenigstens als Spur. Darauf gibt es aber nicht den kleinsten Hinweis.

Man fragt sich, ob das dem amerikanischen Starsystem und seinen bekannten Problemen geschuldet ist. War Sandra Bullock bereit, einen "Cop Killer" zu spielen und dabei ziemlich furchterregend auszusehen, aber am Ende nicht mutig genug für eine vollständige Figur? Das kommt ja vor. Nora Fingscheidt, eine der Besten unter den neuen Regisseurinnen, weiß allerdings, wie man vollständige Figuren erzählt - wurde sie überstimmt und entmachtet?

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Das Urteil darüber sollte man zurückstellen bis zum Ende des Films, der trotz dieser ungelösten Frage bewegend und unbedingt sehenswert ist und in einem Herzschlagfinale eskaliert. Denn zum Schluss verschiebt sich noch einmal die Perspektive, und die erzählerischen Entscheidungen, die Bullock und Fingscheidt getroffen haben, erscheinen in einem neuen Licht.

The Unforgivable , USA 2021 - Regie: Nora Fingscheidt. Buch: Peter Craig, Hillary Seitz, Courtenay Miles. Kamera: Guillermo Navarro. Mit Sandra Bullock, Jon Bernthal. Kinostart: 25. 11. 2021. Ab 10.12. auf Netflix.

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