"The Substance" im Kino:Jeder Kontrolle entglitten

Ein Kilogramm dieses Stoffs genügt, um eine Million Menschen in eine andere Welt zu katapultieren: 1943 entdeckte der Chemiker Albert Hofmann LSD. Nun zeigt der Dokumentarfilm "The Substance" die vier Phasen im Lebenslauf dieser anarchischen Substanz.

Burkhard Müller

Immer hat die Menschheit vom Stein der Weisen geträumt: vom Alchimisten, der viele Jahre in seiner Werkstatt herumprobiert, geduldig die Mischungen zusammengießt, und plötzlich ist sie da, die Sekunde, die alles verändert, von nun an liegt es in der Hand des Meisters, Gold zu machen, so viel er sich nur wünscht.

"The Substance" im Kino: Streng regulierte Irrationalität, so begann die LSD-Forschung.

Streng regulierte Irrationalität, so begann die LSD-Forschung.

(Foto: Mindjazz Pictures)

Einmal ist es tatsächlich so gekommen. Albert Hofmann, Chemiker bei der Schweizer Firma Sandoz, fand, als er das giftereiche Mutterkorn destillierte, etwas weit Bedeutsameres als das Blutdruck-Medikament, nach dem er suchte, nämlich das Lysergsäurediethylamid oder, da kein Mensch den Namen aussprechen kann, kurz LSD. "The Substance" nennt der Schweizer Regisseur Martin Witz seinen Film, er erzählt die dramatische Biografie dieses einzigartigen Stoffs, von dem ein Kilogramm genügt, um eine Million Menschen in eine andere Welt zu katapultieren.

Der Film beginnt mit einem Interview, das der hundertjährige Hofmann in der Idylle seines Schweizer Alterssitzes gibt. Rückblenden zeigen ihn und seine junge Familie im Technicolor des Jahres 1943 - diese alten Streifen Zelluloid bis hin zu den Sechzigern deuten das ganz und gar Fremde viel eindringlicher an, als es die schlierenden Kameratricks vermögen, wenn sie uns Visionen vorgaukeln wollen. Der fotografischen Linse müssen sie unsichtbar bleiben; was sie zeigen kann, ist der Abglanz auf den Gesichtern, ein Widerschein von fernen Himmeln.

Vier Phasen lassen sich im Lebenslauf des Stoffs unterscheiden. Die ersten beiden, die medizinische und die militärische, werden bestimmt von den Anstrengungen männlich-rationaler Institutionen, sich das Inkommensurable zu eigen zu machen.

Autoritätspersonen in weißen Kitteln und in Uniformen bemühen sich, streng regulierte Bedingungen für ihre Experimente zu schaffen; aber die Probanden entgleiten ihnen. Soldaten, die exerzieren sollen, laufen verwirrt durcheinander, oder sie lachen ein "kosmisches" Gelächter und hören nicht mehr auf damit. Ein Künstler (man hat gehört, dass LSD die Kreativität erhöht) soll unter dem Einfluss der Droge ein Porträt zeichnen, die Holzkohle erscheint ihm lila, das lässt er sich nicht ausreden. Schließlich stellen CIA und US-Streitkräfte ihre Forschungen frustriert ein.

Nixons Minister schmähen die Substanz als durch und durch böses Gift

Die anarchische Substanz, die sich von den Herrschenden so schlecht beherrschen ließ, geht in den Sechzigern auf sozusagen natürlichem Weg zu denen über, die die Anarchie wollen, zur kalifornischen Hippie-Bewegung. Und nun erstrahlen die Bilder, die in den Labors von einem kontrollsüchtigen Schwarzweiß waren, in schrägen Farben.

Die Blumenkinder tanzen im Park, der Flower-Power-Bus rollt über Land, Jimi Hendrix zündet seine Gitarre an. 1967 erblüht der "Sommer der Liebe" in San Francisco, Tausende von LSD-Dosen werden an die Soldaten in Vietnam verschickt, damit sie, statt zu kämpfen, glücklich sind.

Da schlägt die Macht zurück. Ein erstaunlich jugendlich wirkender Ronald Reagan, damals Gouverneur von Kalifornien, verkündet das Verbot der Substanz und erklärt deren Konsumenten zu "kompletten Narren"; die Minister Nixons, die Gesichter verzerrt von einem kalten Hass, wie er heute in der Politik nicht mehr in Erscheinung zu treten wagt, schmähen LSD als ein durch und durch böses Gift.

Heute medizinisch wieder zugelassen

Danach wird es lange still um die Substanz. Wer sie anfasst, geht ins Gefängnis. Aber der Film zeigt auch die vorerst letzte Phase. LSD ist heute wieder medizinisch zugelassen, in ganz bestimmten engen Grenzen: Todkranke Krebspatienten, die in tiefe Depression verfallen sind, dürfen es nehmen - damit sie, ihr nahes Sterben vor Augen, noch einmal etwas Beglückendes erleben.

Die Wissenschaft ist offenbar bestrebt, von dieser Therapie möglichst wenig Aufhebens zu machen - gibt sie nicht denen recht, die schon immer wussten: "Reality is for those who can't handle drugs"? Und obwohl der Film diesen Punkt sehr diskret behandelt, nährt er doch die Vermutung: eine Freigabe der Substanz kann sich die Gesellschaft nicht leisten, weil das, was sie dem Einzelnen zu bieten hat, sich im Vergleich allzu kümmerlich ausnimmt.

Zum Schluss begleitet die Kamera eine alte Hippie-Frau, die den Flower-Power-Bus über die Jahrzehnte treu gehütet hat; versteckt steht er in einer Garage und wirkt, trotz seiner fröhlichen Lackierung, sehr gebrechlich. Sie streichelt ihn, ganz vorsichtig, als liefe er sonst Gefahr, zu zerfallen wie buntes Spinnweb. Ein Film, der ruhig von tiefen Affekten spricht.

THE SUBSTANCE, ALBERT HOFMANN'S LSD, Schweiz 2011 - Regie: Martin Witz. Mindjazz pictures, 96 Min.

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