"The Ordinaries" im Kino:Bereit für die Großaufnahme

"The Ordinaries" im Kino: Grau in grau: "The Ordinaries", das sind hier Nebenfiguren auf dem Weg zur Arbeit.

Grau in grau: "The Ordinaries", das sind hier Nebenfiguren auf dem Weg zur Arbeit.

(Foto: Port-au-Prince)

Sophie Linnenbaum hat in "The Ordinaries" eine brillante Idee - Filmfiguren, die plötzlich wissen, dass sie Filmfiguren sind. Zu Ende gedacht ist das allerdings nicht.

Von Nicolas Freund

Paula hat große Träume: Sie möchte eine Hauptfigur sein! Keine Nebenfigur wie ihre Mutter, die nur mal kurz durchs Bild huscht oder brav ihren einen Satz aufsagt. Sie möchte so sein wie ihr verschwundener Vater. Jede Geschichte drehte sich um ihn! Dazu geht Paula auf die Schule für Hauptfiguren, sie ist die Klassenbeste in "Panisches Schreien". Mit den anderen Emotionen klappt es noch nicht so recht, das merkt man daran, dass Paula Probleme hat, mit dem Gerät, das über ihrem Herz eingesetzt wurde, die passende Filmmusik zu erzeugen.

"Nennenswerte Höhepunkte oder Cliffhanger" hat sie auch nicht vorzuweisen, aber trotzdem ist sie fest entschlossen, nicht wie ihre Mutter in einem Plattenbau in einer farblosen Wohnung zu hocken und immer die gleichen Sätze vor sich hin zu murmeln. Wie schön das Leben als Hauptfigur sein kann, sieht sie an der Familie ihrer besten Freundin, die in einer Art Barockpalast-Villa lebt und so viele Emotionen hat, dass sie fast nur noch in kurzen Musical-Einlagen miteinander kommuniziert, wie in einem alten Disney-Film.

Klingt schräg? Das hat sich Sophie Linnenbaum wahrscheinlich auch gedacht, als sie an der Filmuniversität Babelsberg an ihrem Spielfilmdebüt "The Ordinaries" arbeitete. Was wäre, wenn Filmfiguren plötzlich ein Bewusstsein dafür entwickelten, dass sie Filmfiguren sind - gefangen in einem unfairen System von Aufmerksamkeit, Leinwandzeit, Großaufnahmen und vorteilhafter Lichtsetzung nur für ganz wenige? Müsste nicht ein Hauen und Stechen um den Status der Hauptfigur einsetzen, und ein tiefer Groll bei allen, denen das verwehrt bleibt? Das Filmische als verschärfte Daseinsmetapher, wenn man so will.

Das ist zuerst mal eine ziemlich geniale Idee. Und eigentlich so naheliegend, dass man sich fragt, warum in mehr als 100 Jahren Filmgeschichte nicht öfter jemand in diese Richtung gegangen ist - spontan fallen einem da nur die Figuren in Woody Allens "Purple Rose of Kairo" ein, die genervt schimpfen, als einer von ihnen von der Leinwand springt und die anderen mehr nicht weiterspielen können. "The Ordinaries" ist jedenfalls voller kluger und witziger Einfälle, in denen das Kino von sich selbst erzählt - und in den besten Momenten auch etwas über unsere eigenen, auch nicht gerade fairen, hierarchisch durchgetakteten Leben.

Schlecht dran sind die "Asynchronen", bei denen der Ton nicht mehr zum Bild passt

So gibt es in Paulas Filmwelt jede Menge Leute, die aussortiert wurden. Diese Randgestalten treffen sich in einer holzverkleideten Spelunke mit niedriger Decke - etwa die "Schwarz-Weißen", die "Doubles" und die "Asynchronen", bei denen der Ton nicht mehr zum Bild passt. Für sie gibt es in dieser dystopischen Welt keine Verwendung mehr. Sie sind aber immer noch besser dran als jene, die gar nicht mehr existieren. Die werde nicht im Jenseits oder unter der Erde vermutet, sondern "zwischen den Schnitten".

Das lässt sich als politischer Kommentar auf alles Mögliche lesen, nicht zuletzt auf die Konventionen des Hollywood-Kinos, das den Zuschauer mit seiner hierarchischen Erzählweise und einem limitierten Repertoire an Emotionen inzwischen so vertraut ist, dass andere Arten des Films für viele gar nicht mehr vorstellbar sind. Man merkt die eigene Irritation, wenn Linnenbaums Film zum Beispiel die Schnitte richtig sichtbar macht.

Die Polizei in ihrer Filmwelt schießt nämlich nicht mit Kugeln, sondern mit Filmschnitten, die das Geschehen kurz unterbrechen. Für den Zuschauer ist das sehr nervig, hat aber einen interessanten Effekt. Denn plötzlich achtet man wieder darauf, was da eigentlich passiert, wenn in Filmen geschnitten wird. Und nebenbei wird noch die Frage aufgeworfen, ob Filme eigentlich immer nur lustig, spannend, gruselig oder schön müssen. Warum nicht auch mal nervig?

Solche Fragen stellt "The Ordinaries" - verfolgt sie dann aber nicht konsequent. Vieles bleibt Feststellung und Behauptung. So vertraut der Film, wenn sich Paula auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater macht, natürlich auch wieder den etablierten Mustern, die er eigentlich kritisiert. Klar, hätte man das Konzept konsequenter umgesetzt, wäre "The Ordinaries" ein Experimentalfilm. Durch seine Zugeständnisse an ein breites Publikum unterläuft der Film aber die eigene Prämisse.

Möglich ist auch, dass da einiges ausgerechnet beim Schnitt noch vereinfacht wurde - in manchen Szenen scheint die Filmpolizei arg gewütet zu haben. Und Paula, gespielt von Fine Sendel mit tiefster Teenager-Melancholie, nimmt man ihr Problem auch nie ganz ab. Ständig im Bild, immer toll ausgeleuchtet, ganz viele Großaufnahmen - sie müsste doch merken, dass etwas mit ihr geschieht, das mit dem Status einer Nebenfigur gar nicht vereinbar ist.

The Ordinaries, Deutschland 2022 - Regie: Sophie Linnenbaum. Buch: Linnenbaum, Michael Fetter Nathansky. Kamera: Valentin Selmke. Mit: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker. Port au Prince. 120 Minuten. Kinostart: 30. März 2023.

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