Süddeutsche Zeitung

"The Florida Project" im Kino:Momente purer kindlicher Magie

Sean Bakers "The Florida Project" feiert die Fantasie und den Erfindungsgeist von Kindern, die für vorfabrizierte Träume zu arm sind. Und erzählt dadurch greifbar von der Ungleichheit Amerikas.

Von Tobias Kniebe

Einmal, die Sonne ist nach einem kurzen Regenschauer zurückgekehrt, scheinen die Farben vor Freude zu brüllen. Augenkrebs-Lila und Flamingo-Pink brüllen um die Wette, vor dunklem Gewitterhimmel, ihre Botschaft zum Highway hinaus: Dies ist Florida, machen Sie Halt! Und über dem lang gestreckten Betonriegel des "Magic Castle Motel" spannt sich ein Regenbogen.

Moonee und ihre Freundin betrachten das Spektakel mit großen Augen und wippenden Pferdeschwänzen. "Am Ende des Regenbogens ist Gold", sagt Moonee. "Ich weiß", ruft Jancey und wirft die Arme in die Luft. "Aber da wartet ein Kobold, der rückt es nicht raus! Wäre dieser Kobold doch nett!" "Na komm, verprügeln wir ihn", kräht Moonee. "Auf geht's!" Schon rennen die beiden Sechsjährigen über den riesigen leeren Parkplatz - und hinein in jene Abenteuerwelt, die sie sich für diesen endlosen Sommer selbst erschaffen haben.

Es ist bezeichnend für den Film "The Florida Project", dass diese Szene nicht wie die Erfindung eines Drehbuchautors wirkt, und erst recht nicht wie die Fantasie eines Erwachsenen. Viel eher glaubt man, dass der Filmemacher Sean Baker tatsächlich einen heißen Sommer mit diesen Kids verbracht hat, dass er ihren Ideen freien Lauf ließ, um gerade noch mit der Kamera hinterherzujagen, in der knallbunten Ödnis an der Route 192, die Florida-Touristen nur im Vorbeifahren sehen. Irgendwann zeigte sich halt ein Regenbogen, und die Mädels wurden davor aufgestellt und sollten etwas sagen, und plötzlich war es ein Moment von purer kindlicher Magie.

Solche Momente gibt es in diesem Film geradezu im Überfluss. Wie Kinder spielen, wenn sie sich dem überwachenden Blick der Erwachsenen entzogen haben, auf welche Ideen sie kommen, wenn klar ist, dass niemand sie beschäftigen oder ihnen Geld für den Eintritt in die Konsumwelt geben wird - das hat man im Kino selten so überzeugend gesehen. Es erinnert an die Welten von Astrid Lindgren, die von ihrem eigenen Aufwachsen auf dem Bauernhof berichtet hat, die Erwachsenen hätten halt einfach den ganzen Tag keine Zeit gehabt - und für die Kinder erst dadurch jenes Paradies geschaffen, von dem ihre Bücher ein Leben lang zehren sollten.

Und so macht es auch keinen Unterschied, ob so ein Paradies nun im idyllischen Lönneberga liegt oder an einem Nicht-Ort, einer grellen Transit-Wüste wie Kissimmee, Florida. Dort wohnt Moonee (gespielt von einer Neuentdeckung, dem unglaublichen Wirbelwind Brooklynn Prince) mit ihrer erst 22-jährigen Mutter Halley (Bria Vinaite) im Magic Castle Motel, das all jenen Zuflucht bietet, die zwar aus ihren Wohnungen längst herausgeflogen sind, aber noch immer 38 Dollar pro Nacht zusammenkratzen. Halley ist nicht gerade überarbeitet, sie liegt den halben Tag im Bett, in einer Mischung aus liebendem Urvertrauen in ihr Kind und selbst noch kindlicher Null-Bock-Attitüde. Der Effekt auf Moonee aber ist derselbe.

Abenteuer gibt es immer und überall. Moonee und ihre Freunde haben Spaß dabei, wenn sie von der Balustrade herab auf die Autos spucken, und fast noch größeren, wenn sie ertappt werden und ihre Spucke mit viel Spülmittel wieder wegputzen müssen. Sie machen Unfug im Technikraum des Motels, der ausdrücklich für sie verboten ist, sie besuchen das Nachbarmotel "Futureland Inn" mit seinem Raketenschild, sie streuen durch die halbverfallene Mustersiedlung eines gescheiterten Immobilienprojekts und lauern vor der Plastikhütte von "Twistee Treat"-Eiscreme, die selbst wie ein Eiscremebecher aussieht. Irgendeine genervte Mutter lässt sich dann immer bequatschen, Moonee und ihren Freunden ein Eis auszugeben.

Das alles ist einen Steinwurf von Disneyworld entfernt - und spielt doch in einem anderen Universum

Wirklich zwingend aber wird die Schönheit ihrer aus dem Nichts geschaffenen Wunderwelt, weil das alles nur einen Steinwurf entfernt von Disneyworld spielt - und doch in einem anderen Universum. Es sind immer nur Spuren, die auf die Nähe des eingezäunten und hochsicherheitsbewachten Entertainment-Giganten in Orlando verweisen: Ein Straßenschild, das die "Seven Dwarfs Lane" ankündigt, ein Honeymoon-Paar, das aus Versehen das falsche Hotel gebucht hat, ein Diebstahl, bei dem es um vier elektronische Disney-Einlassbänder im Wert von 1700 Dollar geht.

Das Staunen in riesigen Kinderaugen, das Disney als Konzern zu seinem ewigen Programm erklärt hat, steht also gleich nebenan teuer zum Verkauf und erscheint doch massengefertigt, plastikummantelt und geradezu herzlos angesichts der Ideen, die Moonee, Jancey und die anderen der Mittellosigkeit ihres Lebens abtrotzen. Sie wandern zu einer Wiese mit zotteligen Kühen und erklären den Trip zur Safari, sie essen Marmeladenbrote auf ihrem umgestürzten Lieblingsbaum, und sie feiern Janceys Geburtstag mit einem Minikuchen nachts auf einem leeren Parkplatz - gerade rechtzeitig, damit das tägliche Disney-Feuerwerk im Hintergrund diesmal für sie leuchtet. So erzählt "The Florida Project" viel greifbarer von der Ungleichheit, die Amerika zerteilt, als schwerfällige Problemfilme, die sich ihr soziales Engagement wie einen Orden an die Brust heften.

Und doch ist der Film weit davon entfernt, Armut zu glorifizieren oder die elterliche Aufsichtspflicht für überflüssig zu erklären. So wie Astrid Lindgren sich schaudernd an ein Höhlensystem erinnert hat, das sie mit ihren Geschwistern ins Heu gegraben hatte und das beim Einsturz zur tödlichen Falle geworden wäre, so lauern auch hier sehr reale Gefahren im Hintergrund. Beim Versuch, in einem leer stehenden Haus den Kamin anzufeuern, lösen die Kinder einen Großbrand aus - ein weiteres kostenloses Spektakel, dass sie aber dann doch ziemlich betreten betrachten. Auch der bleiche sabberende Mann, der sich ihnen auf dem Spielplatz nähert, muss vom Motelmanager Bobby sehr resolut vertrieben werden. Dieser Bobby ist, mit wunderbar liebender Erschöpfung, von Willem Dafoe gespielt, die wahre Elternfigur in diesem Film - schon weil sein Job verlangt, dass er ständig Grenzen setzen muss.

Seine Augen aber haben schon alles gesehen, was Armut anrichten kann, sie sind von Traurigkeit verdunkelt. Er weiß, dass Halley, die Mutter, sich nicht zusammenreißen wird, um sich in einem Job durchzubeißen - ganz gleich, wie oft er sie ermahnt. Er sieht, wie stolz sie ihren jungen, reich tätowierten Körper zur Schau stellt, und ahnt, was sie bald tun wird. Und er lächelt angesichts von Moonees Frechheit und Erfindungsgeist - weil sie das Einzige sind, was sie vielleicht retten wird, wenn der Sommer ihrer Kindheit zu Ende geht.

The Florida Project, USA 2017 - Regie: Sean Baker. Buch: Baker, Chris Berdoch. Kamera: Alexis Zabe. Mit Willem Dafoe, Brooklynn Prince, Bria Vinaite, Valeria Otto. Prokino, 111 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2018/cag
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