Süddeutsche Zeitung

Oscar-Favorit "The Descendants" im Kino:Inselhopping mit George Clooney

Nichts ist schöner als die Unvollkommenheit. George Clooney brilliert in Alexander Paynes "The Descendants" als überforderter Familienvater. Ein Film wie das Leben: Das Schicksal macht sich einen Jux daraus, uns in den qualvollsten Augenblicken aussehen zu lassen wie Vollidioten. Clooney spielt das so grandios, dass es den Zuschauern geradezu das Herz bricht.

Susan Vahabzadeh

Mit dem Begriff "Starqualitäten" wird alles Mögliche zusammengefasst, ganz selten allerdings ist das damit gemeint, was eigentlich am wichtigsten ist: die Fähigkeit eines Schauspielers, anhand eines Drehbuchs und der vorangegangenen Filme des Regisseurs erkennen zu können, ob das, worauf er sich einlässt, es wert ist. George Clooney kann das - für seinen neuen Film hat er sich mit Alexander Payne zusammengetan, der mit "About Schmidt" schon gezeigt hat, dass er ein Händchen hat für eine ganz besondere Art filmischer Erzählung, dass er das Tragische mit dem komisch Absurden verweben kann zu etwas Organischem, zu einem Stück verfilmten Lebens.

So ein Film ist auch "The Descendants - Familie und andere Angelegenheiten", für den Clooney nun zum dritten Mal für einen Hauptdarsteller-Oscar nominiert worden ist. Für "Syriana" hatte er in einer Nebenrolle gewonnen, diesmal habe er den Hauptpreis verdient, heißt es seit der Premiere von "The Descendants" beim Filmfestival in Toronto - er verdient ihn, für eine Reihe schmerzlicher Szenen in diesem Film, von denen er die meisten mit einer bewusstlosen Partnerin absolviert, und zwar grandios, mit wenigen Mitteln und ohne Pathos. Fünf Nominierungen insgesamt hat "The Descendants" bekommen, außer für Clooney auch für Regie, Schnitt, Drehbuch und als bester Film.

Matt King, den Clooney spielt, stellt sich selbst vor, in einem Voice-Over, das sich in diesem Film, auch das ist selten, wie selbstverständlich einfügt. Matt King lebt in Hawaii, einem paradiesischen Ort, der nach sehr irdischen Gesetzen funktioniert. Hier sind die Menschen so glücklich und so unglücklich wie überall auf der Welt. Glaubt ihr, fragt Matt, während die Kamera auf der Straße die Gesichter der Deprimierten, der Heimatlosen und der Sorgenvollen einfängt, unser Krebs sei weniger tödlich als eurer?

Matt ist Anwalt, er ist vermögend, lebt aber von dem, was er verdient, und er hat ein Problem: Seine Frau liegt im Koma, man hat sie in der allerersten Einstellung gesehen, voller Lebenslust, auf einem Motorboot. Von dem Bootunfall, teilt ein Arzt Matt mit, wird sie sich nicht erholen, die Maschinen, die sie nun am Leben erhalten, müssen abgestellt werden, sie hatte eine Verfügung unterschrieben und darf nicht künstlich am Leben erhalten werden, wenn es keine Hoffnung mehr gibt.

In einer Szene sieht man Matt King, wie er in Pantoffeln die regennasse Straße von seinem Haus zu dem von Freunden entlangrennt, ein bisschen wie ein Wasservogel auf der Startbahn, der es nicht in die Luft schafft, mit einem platschenden Geräusch bei jedem Schritt. Das sieht komischer aus, als es im Zusammenhang ist, da bricht einem die Szene geradezu das Herz.

Wenige Augenblicke zuvor hat er herausgefunden, dass weite Teile seines Lebens nur noch Fassade gewesen sind, und er das nicht einmal mitbekommen hat - das ist dieser melancholische Humor, der Payne auszeichnet, das Gespür dafür, dass sich das Schicksal einen Jux daraus macht, uns in den qualvollsten Augenblicken aussehen zu lassen wie Vollidioten. Und Payne schaut Matt dabei zu, mit einem warmherzigen Blick. "The Descendants" erzählt von einem schmerzlichen Abschied, aber er ruft uns immer wieder ins Bewusstsein, mit einem kleinen Blick auf die Nebenfiguren, dass solche Geschichten jeden Tag passieren, uns allen.

Ich bin die Zweitbesetzung, das Reserve-Elternteil, sagt Matt hilflos. Zwei Töchter haben die Kings, zu denen er erst Zugang finden muss, bei der kleinen Scottie ist noch nicht alles verloren, aber die ältere, Alex, wurde bereits wegen schlechter Führung in ein Internat auf einer Nachbarinsel abgeschoben. Er holt sie nun rüber, Insel-Hopping in kleinen Flugzeugen scheint in Hawaii so normal zu sein wie andernorts eine Busfahrt, und das Schwere wird schwerer, als Matt herausfindet, dass seine Frau einen Liebhaber hatte.

Payne hat das Drehbuch zusammen mit zwei Co-Autoren aus einem Roman von Kaui Hart Hemmings herausdestilliert, ganz beiläufig, in genau der richtigen Dosierung öffnet sich die Familiengeschichte der Außenwelt - Matt muss nebenher noch ein ganz anderes Problem lösen, denn die ganze Familie King stammt von einer hawaiianischen Prinzessin ab, die einst einen Weißen geheiratet hat - das Land, das ihr gehörte, haben ihre Nachkommen seit Generationen vor dem Zugriff der Zivilisation bewahrt, ein kleiner Rest jungfräulicher Natur in einer Gegend, die sich dem Tourismus opfert.

The Descendants, die Nachkommen, die Absteiger - die Kings stammen von Häuptlingen ab, aber das bedeutet heute nichts mehr. Was gibt man weiter, was muss man bewahren und was ist es nicht wert, aufgehoben zu werden? Das muss jeder selbst herausfinden, aber "The Descendants" ist immerhin schon einmal ein Film übers Fortführen, von dem man jederzeit behaupten kann, er werde selbst Bestand haben.

Alle drei, Matt und seine beiden Töchter, sind wütend - sie müssen jetzt nur langsam herausfinden, dass sie wütend sind auf das Leben, nicht auf die Mutter, auf einer weiteren absurden Reise, bei der der verfolgte Liebhaber eine Rolle spielt, und der zauberhafte Sid, Alex' Freund - eine köstliche Figur: Er lacht sich kaputt, wenn die demente Oma der Familie Unfug redet, macht Behindertenwitze und tapst auch ansonsten fröhlich in jeden Fettnapf. Er hat zwar wenig Taktgefühl, aber trotzdem das Herz am rechten Fleck, und am Ende muss sogar Matt ihn lieben.

Die Inseln, die Städte, sogar die Strände sind hier so wenig geschönt wie die Figuren, von denen Payne erzählt. Vielleicht glaubt man ihnen alles, weil sie alle dauernd etwas falsch machen bei dem Versuch, das Richtige zu tun - sie sind fehlerhaft, beschädigte Ware. Die Kinder sind pubertär aggressiv, Matt ist nicht unschuldig am Verhalten seiner Frau, die tatsächlich selbstsüchtig war, ihr Vater - Robert Foster als kauziger Alter! - ist rechthaberisch, die Cousins, allen voran Beau Bridges (der einen sehr überzeugenden Hawaiianer abgibt), sind gieriger, als sie gern zugeben würden.

Payne erzählt in langsamem Rhythmus von einem langsamen Lernprozess. Matt ist eine verirrte Seele, er ist derjenige, der aus einem Koma wieder aufwacht: Und wieder weiß, was er liebt und wen, und was wichtig ist, und dass man sich Zeit nehmen darf, etwas besser zu machen. Man liebt die Menschen, die man liebt, nicht weniger im Angesicht ihrer Fehler und Schwächen. So ist das Leben.

Man möchte einen Film, der auf solch leidenschaftliche Weise die Unvollkommenheit der Menschen an sich feiert, nicht vollkommen nennen - aber tatsächlich hat Payne aus jeder einzelnen Figur, die den Kings über den Weg läuft auf den diversen Inseln, mit nur ein paar Sätzen und Gesten eine Persönlichkeit gemacht und sie phantastisch besetzt, vor allem Shailene Woodley als Alex; und er findet auch noch in den alltäglichsten Dekors das Besondere.

Es scheint nie wirklich die Sonne auf Hawaii, wie Alexander Payne es uns zeigt, der Himmel ist immer trüb und verhangen. Einmal fährt Matt mit seinen Töchtern zu dem Land ihrer Vorfahren, sie stehen oben auf den Felsen, der Wind zerrt an ihren Kleidern, unter ihnen erstreckt sich der Urwald bis hin zum dunkelblauen, unruhigen Meer, über ihnen graublauer Wolkendunst. Aber die Welt, die vor ihnen liegt, ist trotzdem unendlich schön.

THE DESCENDANTS, USA 2011 - Regie: Alexander Payne. Buch: A. Payne, Nat Faxon, Jim Rash, nach dem Roman von Kaui Hart Hemmings. Kamera: Phedon Papamichael. Schnitt: Kevin Tent. Mit: George Clooney, Shailene Woodley, Robert Forster, Amara Miller, Beau Bridges, Judy Greer. Fox, 115 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 25.01.2012/gr
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