Süddeutsche Zeitung

Thalia Theater in Hamburg:Oder?

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Ironische Pathos-Kritik in drei kurzen Schiller-Stoffen am Thalia-Theater von Antú Romero Nunes.

Von Till Briegleb

Früher lernte man als Kind: "Man zielt nicht auf Menschen!" Selbst ein Stock als Waffenattrappe zog diese Ermahnung nach sich. Doch was kümmert's den Wilhelm Tell. Mit gespannter Armbrust steht der Schweizer Freiheitsheld auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters und zielt ins Publikum, als seien die Köpfe dort Äpfel. Oder die vielen coronafreien Reihen zwischen den Zuschauern jene berühmte Hohle Gasse, durch die er kommen muss, der Hermann Gessler, Reichsvogt in Schwyz und Uri, den Tell erschießen wird. Das muss die Freiheit sein, um die es hier geht. Wen scheren Rücksicht, Respekt und Erziehung, wenn's zum Höchsten ruft, zum Nationalen, Erhabenen, Brüderlichen, oder?

"Oder?" sagt Paul Schröder gerne und oft, denn versteckt hinter einem langen grauen Bart und Alpentracht gibt der Tell-Darsteller ungeniert eine Karikatur Schweizer Marotten. Und dazu gehört eine Sprache mit übertrieben viel scharfem "Ch" darin, sowie die in Helvetien übliche fragende Konjunktion am Satzende, oder? Der fiktive Nationalheld der Eidgenossen, den Friedrich Schiller mit seinem Drama 1804 richtig bekannt machte, ist in dem Schiller-Potpourri "Ode an die Freiheit", das Antú Romero Nunes für März konzipiert hatte und jetzt zur Saisoneröffnung vor Publikum erst zeigen konnte, kein Vorbild - höchstens für Nationalisten, die auf andere zielen.

Denn Nunes und sein Dramaturg Matthias Günther haben an diesem Abend, der drei Schiller-Stoffe zu drei Einaktern kürzt, Sinn und Wortlaut der Vorlagen recht frei umgestaltet. Zwar verheißt der Titel in Anlehnung an des Dichters berühmte "Ode an die Freude", die er 1786 in seiner Zeitschrift "Thalia" veröffentlicht und die Beethoven rund 40 Jahre später in der 9. Sinfonie vertont hat, einen heroischen Chorgesang an die Freiheit. Aber die größte aller Pathos-Formeln bei Schillers an Pathos-Formeln reicher Literatur kann ein Regisseur, der auf Moral stets mit Ironie reagiert hat, natürlich nicht als ernsten Schulstoff aufführen.

Denn wer redet gerade nicht alles von Freiheit, wenn er das Gegenteil meint. Von veganen Neo-Nazis über bewaffnete Rassisten zu Diktatoren, die damit ihre Freiheit zum hemmungslosen Machtgebrauch meinen, ist dieser schallende Ruf heute eher ein Indikator für Hass, Ausgrenzung und Verlogenheit.

Und deshalb wird auch Wilhelm Tell, der bewaffnete Nationalist mit den kernigen Sprüchen, in Nunes' Ode zu einer Art Reichsbürger. Ganz im Gegensatz zum Besatzer aus Österreich, dem Gessler. Konträr zu Schillers Schurken-Porträt eines Habsburger Lokaldespoten ist der Reichsvogt bei Thomas Niehaus die ausgleichende Ruhe selbst.

Ein Wiener Weltmann, dem vom vielen Käse schlecht wird, ist nicht schuld an den eskalierenden Missverständnissen mit dem Talvolk am Vierwaldstättersee. Der freundliche Unterhändler eines um Vermittlung bemühten Regimes predigt so lange Verständigung und Dialog, bis er von einem verblödeten Hinterwäldler, dem niemals grüßenden Tell, mit der Armbrust erledigt wird, obwohl auch er den Starrkopf gebeten hat, nicht auf Menschen zu zielen. Umsonst. Ideologische Verblendung nimmt sich die Freiheit, zu schießen statt zu reden, oder?

Auch die nächste Folge dieser ironischen Pathos-Kritik zielt ungeniert auf die Schillersche Moral männlicher Selbstgewissheit. In "Kabale und Liebe" spielt die Familie des Musikus Miller (Jörg Pohl, Cathérine Seifert, Lisa Hagmeister) das ganze Drama ungebührlicher Liebe zwischen Bürgerin und Adelsmann als Rollenspiel durch. In einer "Stube", die eher einem königlichen Ballsaal gleicht (Bühne: Matthias Koch), und in Kostümen von Victoria Behr, die nicht mit Reifrock, Perücken und Pastell geizen, stellt diese Zusammenfassung eines Abiturthemas nicht so sehr alte Klassenschranken in Frage. Hier geht es um penetrante Ehrbegriffe kleiner und großer Patriarchen. Entsprechend vergiftet die schwer genervte Luise am Ende lieber einige emotionale Erpresser, leicht anders als im Original.

Der Streit um die englische Krone ist ein Picknick mit Klorolle und Gartenbank

Und schließlich dürfen Barbara Nüsse und Karin Neuhäuser auf einer Gartenbank mit Klorolle und Picknickkorb den Streit von Elisabeth und Maria Stuart um die englische Krone als schwesterlichen Eifersuchtszank vom hohen Ton kurieren. Die eine Alte neidet der anderen die Macht, diese der einst schöneren Schwester die lustvolle Vergangenheit. In einer statisch sitzenden Anordnung wird die Kernszene von "Maria Stuart", die Konfrontation der Schwestern zur Verkündung des Todesurteils, zu einer komödiantischen statt politischen Auseinandersetzung. Gezielt wird nur auf Eitelkeit.

Nach dem Schlussapplaus dieser "Ode an die Freiheit" erhielten Nunes und Jörg Pohl dann noch vom Intendanten Joachim Lux bunte Blumensträuße für elf Jahre Zusammenarbeit. Beide haben sich aber nun vom Thalia Theater verabschiedet und leiten seit dieser Saison die Schauspielsparte in Basel. In Tells Heimat suchen sie eine neue Freiheit, verlassen ein Theater, das nach "Elf Jahren" selbst ein bisschen wie ein gealterter Nationalstaat wirkt, wo jeder seine Rolle kennt, eine Freiheit ohne Demokratie herrscht, und Kunst eine Sache von Treueeiden ist. Oder?

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SZ vom 01.09.2020
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