Süddeutsche Zeitung

Lessingtage Hamburg:Die Hölle, das sind alle

Jette Steckel inszeniert zur Eröffnung der Lessingtage am Hamburger Thalia Theater "Die Besessenen" von Albert Camus. Das Ensemble zumindest ist großartig.

Von Till Briegleb

Albert Camus' Stück "Die Besessenen" ist die Verdichtung der 900 Seiten von Dostojewskis Roman "Die Dämonen" auf 110. Und Jette Steckels Inszenierung dieser Dramenfassung komprimiert den Stoff noch einmal deutlich. Deswegen ist die wichtigste Frage zu dieser Premiere, mit der die Lessingtage am Hamburger Thalia Theater eröffnet wurden: Was bleibt von dem komplexen Beziehungsgeflecht und den ideologischen Kämpfen des Stoffes übrig, diesem Thesengewitter über Nihilismus, Sozialismus, Anarchismus und Egoismus?

Zunächst ein religiöser Albtraum. Jette Steckel hat mit Nadin Schumacher eine geschlossene Lehranstalt aus Tafeln gebaut für zehn Zerstrittene aus Dostojewskis Figurenkosmos. Diese Zelle aus Unterrichtsflächen wird aber nicht mit Schulstoff beschriftet, sondern mit den Monstern des Hieronymus Bosch. Die Kreide in den Händen von Tim Burchardt, der in einem Hängekorb live malend über dem Geschehen schwebt, zeichnet die Höllenfiguren von Boschs "Garten der Lüste" an die Wand.

Wenn diese Interpretationshilfe etwas nahelegt, dann, dass die Ideengeschichte der Ismen ein Inferno ist, das aber in exotischer Ferne lodert. Im Licht der Gegenwart wirken Dostojewskis Schwärmer und selbsternannte Umstürzler von 1873 eher wie absurde Mischwesen aus ideologischer Verblendung, halb verdauten Wissensbrocken und übermächtigem Selbstdarstellungstrieb. Diese glühenden Revolutionäre aus der Zeit des Zarismus, die Dostojewski alle scheitern ließ an ihren Eitelkeiten, Sehnsüchten und Schuldgefühlen, finden in Steckels Version recht wenig Anschluss an eine Zeit, wo radikale Verschwörung eher unter roten MAGA-Kappen im Stil von Donald Trump gärt.

Aktuelle Denkanstöße bietet die Inszenierung nicht, dafür aber begeisterndes Spiel

Es ist das Kernproblem dieser bunten Inszenierung, die damit beginnt, dass alle sich Farbe in die Haare schmieren, dass sie die historischen Debatten um Gott, Russland, Gerechtigkeit und Freiheit nicht vor ihrer Künstlichkeit rettet. Die Fassung, die Steckel mit der Dramaturgin Emilia Heinrich in der Hoffnung erstellt hat, Parallelen zum Totalitarismus von heute (etwa in Russland) ziehen zu können, konzentriert sich textlich zu sehr auf die männlichen Dispute über abstrakte Wahrheiten, um aktuelle Denkanstöße zu liefern. Dafür verzichtet diese Version des Stoffes auf wesentliche Brücken der Handlung, wie sie in Camus' Fassung der Erzähler liefert, der hier gestrichen ist. Das führt dazu, dass die Verzweiflungstaten, die am Ende zum gewaltsamen Tod der meisten Anwesenden führen, selten sinnvoll hergeleitet sind. Verloren im Stoff wie die Sünder in Boschs Höllenwelt rettet die Zuschauer nur, dass die Zerfahrenheit der Erzählung begeisternd gespielt wird.

Jirka Zett als charismatische Zentralfigur Nikolai Stawrogin, dessen rätselhafte Indifferenz gegenüber allen Geschehnissen ihren Grund in einem schrecklichen Geheimnis hat, windet sich durch die Debatten und Forderungen seiner Mitmenschen mit einer brüchigen Souveränität, die große Schauspielkunst ist. Seine ehemaligen Gefolgsleute, die ihn erneut für ihre Sache gewinnen wollen, finden im rasenden Drängen Felix Knopps als Schatow, in der gemeinen Verführungslust von Sebastian Zimmler als Werchowenskij und dem verblendeten Messianismus Kirillows, gespielt von Nils Kahnwald, temperamentvolle Gegenüber.

Julian Greis gibt in einer seiner besten Rollen die Dummen, Säufer und Parasitären des Stücks mit der anrührenden Verzweiflung des Krisenmenschen. Und so findet jede Farbschattierung der bürgerlichen Tragödie, die zwischen Langeweile, Glückssuche und falschen Selbstbildern das Scheitern der Sehnsüchte verhandelt, ihre Lebensphilosophie in diesem Ensemble, zu dem noch Barbara Nüsse, Lisa Hagmeister, Maike Knirsch, Cathérine Seifert und André Szymanski gehören. Wenn man halt nur wüsste, was dieser Garten der Schauspielkünste eigentlich zu unserer gegenwärtigen Krisenzeit sagen will.

Die weiteren Ankündigungen der Lessingtage, die bis zum 12. Februar ein dichtes Festivalprogramm bieten, sind da wesentlich konkreter: Der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani inszeniert Aldous Huxleys Menschenfabrik aus dem Roman "Schöne neue Welt" als Spiegelbild des Mullahstaates. Die ukrainische Gruppe Dakh Daughters befasst sich in zwei Gastspielen mit dem Verhältnis von Kunst und Krieg. Yael Ronen präsentiert ihr Musical über die Fallstricke der Identitätspolitik "Slippery Slope", Romeo Castellucci zeigt sein Psychoexperiment "Bros" über strikten Gehorsam, und Nicolas Stemanns Züricher Inszenierung von "Ödipus Tyrann" spinnt den Faden der Herrschaftskritik kunstvoll weiter. Hier sind die Dämonen unserer Zeit.

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