Süddeutsche Zeitung

Terrorismus:Wie die Literatur den Terror erfand

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Orlando, Nizza und das Surreale: Die blutige Gewalt der vergangenen Wochen hat Wurzeln in den Werken namhafter Schriftsteller. Aus den Fiktionen von Brecht und Breton ist Alltag geworden.

Von Willi Winkler

Wenn es wieder einmal passiert ist, schnurrt die Analyse auf wenige und immer die gleichen Worte zusammen. Die Opfer sind "unschuldig", der Täter ist "feige", seine Tat ist wie der Tod, den der Mörder bringt, unvermeidlich "sinnlos". Was für ein Segen, wenn sich dann doch ein "Islamischer Staat" meldet und behaupten kann, der Täter sei ein Heiliger Krieger, ein Märtyrer, gefallen im Krieg gegen die Ungläubigen, wenigstens ein kleiner Soldat im sogenannten Kampf der Kulturen gewesen. Die Sinnlosigkeit des Mordens wäre sonst fast unerträglich.

Beide Seiten bemühen sich mit aller Macht um die Sinnstiftung der Sinnlosigkeit. Pflichtschuldig reagiert der Staat und erklärt, dass er sich im Krieg mit dem Terror befinde, ihn mit allen Mitteln bekämpfen und am Ende siegen werde. Vielleicht gelingt es ihm sogar, aber es ist wenig wahrscheinlich. Wenn ein Eiferer, der drei Wochen zuvor beschlossen hat, sich nicht mehr zu rasieren, mit einem Lastwagen durch eine feiertäglich gestimmte Menge pflügt, weiß sich kein Staat mehr zu helfen. Nur jemand wie Donald Trump kann auf die Idee kommen, eine massenhafte Bewaffnung hätte den Massenmord im Schwulenclub von Orlando verhindert. Keine auf noch so tiefes Rot gedrehte Terrorwarnung kann die Menschen davor bewahren, dass jemand in einen Regionalzug steigt und ohne Vorwarnung auf die Spätheimfahrer einzuhacken beginnt.

Zwei amerikanische Präsidenten wurden umgebracht, ein Zar, die österreichische Großfürstin

Der tunesische Massenmörder, der am Revolutionsfesttag in Nizza die Promenade des Anglais entlangfuhr, wird kaum gelesen haben, was der französische Dichter André Breton vor 85 Jahren formuliert hatte. Aber mit seinem "Zweiten surrealistischen Manifest" stellte Breton 1930 nicht nur der französischen Avantgarde einen Freibrief aus: "Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen." Es hat funktioniert.

Die Geschichte der Zivilisation besteht in der Eindämmung der Gewalt. Kein Einzelner, keine Gruppe, nur der Staat soll das Monopol halten. Nach 1918 hatte in Deutschland die Monarchie als Machtform ausgedient, im übrigen Europa wurde die Revolution nachgeholt, die sich die Franzosen bereits 1789 geleistet hatten. Der Frieden brachte aber kein Ende der Gewalt. Die Surrealisten konnten den Anarchismus der Vorkriegszeit in martialische Zivilisationskritik überführen.

Walter Benjamin hat den "destruktiven Charakter" als Phänotyp der weltkriegsgeschädigten Generation beschrieben. Die Gewalt, die sie in den Schützengräben erlebt hatte, tobte sich im Zwischenkriegsfrieden in einem nie da gewesenen Verbalradikalismus aus. Ernst Jünger träumte von Maschinenmenschen, beim frühen Brecht wurden sogar Tote ausgegraben, um sie - Mann ist Mann - in den nächsten Krieg zu schicken. Der Futurist Filippo Tommaso Marinetti stieg ins Auto, der Dichter Gabriele d'Annunzio ins Flugzeug, beide rasten Mussolini und dem Faschismus entgegen.

Bretons Gewaltfantasie war älter. Er dachte an die Anarchisten, die zum Ende des 19. Jahrhunderts angefangen hatten, die weitgehend autoritären Regimes zu beseitigen: Zwei amerikanische Präsidenten wurden umgebracht, ein Zar, die österreichische Kaiserin, etliche Großfürsten. Die Anarchisten verbreiteten so gründlich den Schrecken, dass das Bundeskriminalamt noch 1971 nach "anarchistischen Gewalttätern" suchte, als es nach der ersten Generation der RAF fahndete.

Der Surrealismus war keineswegs so nett und harmlos gemeint, wie die posterfähigen Bilder von Magritte oder Dalí vorgeben. Für den "Aufschwung des Geistes zu einer endlich bewohnbaren Welt", den Breton doch wollte, brauchte es mehr und auch die Versicherung, dass er, der Surrealismus, "sich einzig von der Gewalt etwas verspricht". Es war die Lizenz zum Töten; in bester literarischer Absicht, versteht sich.

Was den Terroristen zu seiner Tat treibt, ist schwer zu sagen. Breton ist es nicht, jedenfalls dürfte er es kaum bei jenen sein, die sich auf den IS berufen. Aber wie Breton verspricht sich der Terrorist einzig von der Gewalt das gewünschte Ergebnis, nämlich maßloses Aufsehen, Furcht und Schrecken, den reinen Terror. In Deutschland, in Europa gibt es keine ruchlosen Potentaten und Machthaber mehr zu töten, die Stauffenberg-Rolle wurde nach 1944 nicht nachbesetzt. Doch im Namen nicht der Zivilisation, aber einer nicht weiter definierten Kultur nimmt der massenmörderische Terrorist Zuflucht zur schlimmsten Barbarei, wiederum in bester literarischer Absicht, die Breton ebenfalls benannt hat. "Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen - der gehört eindeutig selber in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe."

Seit Dostojewski schwärmt die Literatur für den Mörder, der zum Heiligen erhoben wird

Und wer möchte schon gern auf diese fette Seite gehören? Das ist bestes elitäres Denken, ein Geistesaristokratismus, dem das unvermeidlich feiste Bürgertum nur als Gegner dienen kann. Die sinnlose Tat ist auf einmal nicht mehr sinnlos, weil sie immer die Richtigen trifft, die anderen, die Masse, gegen die der Einzeltäter mit seiner unbestimmten Wut vorgeht. Der Wanst der Gesellschaft befindet sich für den Terroristen immer in Schusshöhe. Seine Sorge gilt keinem Nachruhm, am Aufschwung des Geistes ist er nicht interessiert, aber er hat die Erniedrigung und Verdummung der Welt am eigenen Leib erlebt - oder er glaubt es zumindest. Er wird sie davon reinigen, am besten mit Blut. Das passende Wort kommt nicht nur aus den Gewehrläufen, sondern aus der Schreibmaschine der ehemaligen Journalistenschülerin Brigitte Mohnhaupt: "wir haben nach 43 tagen hanns-martin schleyers klägliche und korrupte existenz beendet." Wieder ein Schuss in den Wanst der Gesellschaft, im Herbst 1977 nicht mehr die "absolute Revolte" der Surrealisten, aber in der Tradition des russischen Tyrannenmords.

Die Literatur, die Kunst insgesamt, schwärmt seit Fjodor Dostojewski für den Mörder, der damit zum modernen Heiligen erhoben wird. Wenn Mick Jagger in "Sympathy for the devil" während der kurzen satanistischen Phase der Rolling Stones als Teufel die Verantwortung für alle Untaten des 20. Jahrhunderts seit der Ermordung der Zarenfamilie übernimmt, verschwindet das unfassbare Böse für einen Moment in der Fiktion, aber beiläufig erklärt er eben auch, dass alle Polizisten "kriminell" seien, and all the sinners saints, alle Sünder Heilige.

Erfreulicherweise haben sich die Pariser Surrealisten damit begnügt, über die Unterschiede in der Orgasmusfähigkeit von Mann und Frau zu diskutieren und sich ansonsten wegen Links- oder Rechtsabweichung gegenseitig aus ihrem Club auszuschließen. So wurde der Surrealismus Geschichte, aber leider nicht nur Literaturgeschichte.

Ein bisschen bang wurde Breton später doch vor seinen Worten und er schrieb sie dann seinem "natürlichen Hang zur Agitation" zu. Niemals sei es ihm in den Sinn gekommen, dabei "abzukratzen", und deshalb starb der Agitator auch in seinem Bett und nicht auf der Straße. 5000 Menschen gaben ihm 1966 das letzte Geleit. Vier Wochen vorher lief auf dem Filmfestival in Venedig "Die Schlacht um Algier". Zu sehen waren junge Frauen, die in der Handtasche Bomben ins Café trugen und Unschuldige töteten. Wieder ging es darum, so viele Menschen in der Menge wie möglich zu treffen. Das war kein Film, sondern hier wurde gezeigt, wie die algerische Befreiungsbewegung die Franzosen aus dem Land vertreiben konnte.

Was aber Literatur war, ist Alltag geworden: der reine Terror.

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SZ vom 21.07.2016
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