Süddeutsche Zeitung

Terror von Brüssel:Der Terror bedroht ein Privileg des Westens

Hier treffen Arme auf Reiche, religiöse Menschen auf Atheisten, Frauen auf Männer. Absolute Sicherheit an öffentlichen Plätzen kann es nicht geben, sie würde die Offenheit unserer Städte ersticken.

Von Laura Weißmüller

Paris, Istanbul, Brüssel - die Orte der jüngsten Terroranschläge lesen sich wie die Ziele ehemaliger Wochenendausflüge. Durch den zunehmend schnelleren Rhythmus der Angriffe hat sich der Terror in den Städten Europas festgesetzt. Ja, mehr als das, er zielt auf genau jene Sphäre, die Europas Metropolen weltweit auszeichnet, die sie für viele Besucher attraktiv macht: den öffentlichen Raum, jenen Platz also, wo sich Menschen bislang angstfrei begegnen konnten - unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Einkommen, ihrer Religion, ihrem Geschlecht.

Europäern mag das so selbstverständlich erscheinen, dass sie es im Normalfall gar nicht wahrnehmen. Wer denkt schon daran, dass es sich um ein Privileg der westlichen Welt handelt, wenn er über den Münchner Marienplatz läuft, den Züricher Hauptbahnhof betritt, durch den Londoner Hyde Park spaziert oder die Ljinbaan entlang bummelt, Rotterdams Fußgängerzone? Schließlich besaß einst jede römische Stadt einen belebten Marktplatz. Im Mittelalter konnten sich die Menschen zumindest tagsüber, zumindest innerhalb der Stadtmauern frei und geschützt bewegen, ein Umstand übrigens, der Europa den Aufschwung brachte und den Kontinent zur Führungskraft der Welt machte.

Erst als die Gaslaterne die Straßen beleuchtete, konnten sich die Menschen auch abends treffen

Denn wo sich unterschiedliche Menschen treffen, entstehen neue Ideen. Und dies ist keine verklärte Sicht auf multikulturelle Gesellschaften, sondern wissenschaftlich erwiesen. Nicht umsonst setzt heute jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält, die Methode des Design Thinking ein, ein Prinzip, in dem möglichst verschiedene Menschen an einem Tisch sitzen, weil dadurch neue Ideen entwickelt werden. Große Pharmafirmen wie Novartis, aber auch Unternehmen wie Facebook und Apple lassen ihren Campus extra so bauen, dass sich ihre Mitarbeiter möglichst oft und zwanglos begegnen, weil sie sich dadurch Innovationen erhoffen.

In den Städten funktioniert das von alleine. Die Gaslaternen, die ab dem 19. Jahrhundert Straßen und Plätze beleuchteten, dehnten den öffentlichen Raum weiter aus. Jetzt konnten sich Menschen auch nach Anbruch der Dunkelheit ohne Angst treffen.

Wie kostbar diese Errungenschaft ist, machen nicht erst die Terroranschläge schmerzhaft sichtbar. Auch der Blick auf die Städte dieser Erde zeigt das.

Wachpersonal vor Museen und Konzerthäusern

Etwa in Manila: Hier entscheidet das Einkommen, welcher öffentliche Raum dem Bewohner zur Verfügung steht. Wer es sich leisten kann, lebt in Makati oder Bonifacio. Zwei vollkommen künstliche Viertel, die so gut wie nichts mit dem Rest der Stadt zu tun haben. Von dort ist der Bewohner schneller am Flughafen als im Zentrum. Hier findet das öffentliche Leben vor allen in Shopping Malls statt, in denen die Menschen nicht nur einkaufen: Es gibt prächtig angelegte Parks, gepflegte Restaurants und Cafés, genauso wie Fitness-Studios und Kinos. Im dauerumbrausten und verkehrsgeplagten Manila sind diese Orte Inseln der Ruhe - für einige wenige. Denn vor jeder Shopping Mall stehen bewaffnetes Wachpersonal und Metalldetektoren. Genauso wie vor jedem Museum, jedem Konzerthaus und jedem öffentlichen Gebäude. Frei zugänglich ist hier nichts.

So ist das in vielen Ländern, vielleicht muss man sogar sagen: in den meisten dieser Erde. Der öffentliche Raum wird abgeriegelt, um ihn zu schützen - wovor auch immer -, aber auch um ihn abzuschirmen gegenüber Menschen, die man dort nicht haben will.

Dies ist ein Widerspruch zur Öffentlichkeit an sich. Denn diese dürfte gerade keine Klassenzugehörigkeit kennen und auch keine Leibesvisite. Doch genau das erfolgt, wenn man in Kalkutta eine Shopping Mall betreten will, in Moskau ein öffentliches Gebäude oder in Tel Aviv einen Bahnhof.

Vermutlich zeigt gerade Israel, worauf sich Europa einstellen müsste, wenn es seine Sicherheit zum höchsten Gut erklärt. Kein Busbahnhof in Jerusalem ohne Militäraufgebot, kein Zug in Tel Aviv ohne das Passieren von Metalldetektoren, kein öffentlicher Platz im Land ohne sichtbar umhergetragene Maschinengewehre. Das alles soll Anschläge verhindern, aber zu welchem Preis?

In Dubai lebt jede Community für sich. Von einer Gesellschaft mag man da kaum sprechen

Die jüngsten Terrorattentate zielen aber auch noch auf ein anderes öffentliches Gut, das uns in Europa zur Selbstverständlichkeit geworden ist: die öffentlichen Verkehrsmittel. Gut ausgebaut, schnell und effizient bringen sie nicht nur Arbeiter morgens zu ihrem Job, sondern auch Bankangestellte und Professoren. Wer dagegen als Tourist in Kapstadt mit der Bahn fahren will, wird schief angeschaut. Im zerbeulten Waggon weiß man dann, warum. Hier fährt keiner Bahn, der es sich leisten kann, das Auto zu nehmen. Dementsprechend angstbesetzt - ob zu Recht oder nicht - sind die Bahnhöfe und Züge, die von dort abfahren. In Dubai muss sich zwar niemand vor Übergriffen fürchten, trotzdem ist die Metro fast ausschließlich das Transportmittel für die sozial Schwachen, die philippinischen Kindermädchen oder pakistanischen Bauarbeiter. Die Segregation der Bewohner lässt sich im Emirat am Metroticket ablesen.

Damit wird sichtbar: Der öffentliche Raum ist das Bindeglied westlicher Gesellschaften. Er führt zusammen, was Gehaltsscheck, Bildungsstand und Nationalität längst auseinanderdividiert haben. Hier trifft Arm auf Reich, religiöse Menschen auf Atheisten, Frauen auf Männer. Man muss sich nicht mögen und schon gar nicht die gleichen Ansichten teilen, aber allen gemeinsam ist das Recht auf diesen Raum.

Was es bedeutet, wenn ein öffentlicher Raum fehlt, zeigt sich wie unter einem Brennglas in Dubai. Hier lebt jede Community für sich, in einer Art Facebook-Filterblase in Kleinstadtformat. Ob Schule, Segelklub, Wohnanlage oder Einkaufszentrum: Die einzelnen Orte schweben unverbunden über den Wüstensand. Ein zufälliges Treffen zwischen den Bauarbeitern der nächsten Hochhaustürme und den Einheimischen, die diese in Auftrag geben, findet nicht statt. Diese Trennung entspricht der Tatsache, dass gut bezahlte Expats hier jahrelang wohnen können, ohne ein Wort Arabisch zu sprechen. Die Integration Neuzugezogener erfolgt jeweils nur in der eigenen Klasse. Von einer Gesellschaft mag man da kaum sprechen.

Genau deswegen ist die Verteidigung des öffentlichen Raumes so wichtig - gegen Terroristen, aber vor allem auch gegen uns selbst. Einige wollen ihn schützen, indem sie ihn hermetisch abschirmen. Aber eine absolute Sicherheit wird es nie geben. Der Versuch, sie zu erzeugen, wird, umgekehrt, die Offenheit der Städte ersticken. Wird den Zusammenhalt der Gesellschaft auflösen und die Furcht vor dem anderen vergrößern. Denn wenn sich die Menschen nicht mehr angstfrei auf öffentlichen und damit neutralen Plätzen begegnen, sondern sich nur noch in ihren Ghettos verschanzen - die luxuswattierten Gated Communities unterscheiden sich abschottungstechnisch nicht sehr von den abgehängten Stadtvierteln der sozial Schwachen, den Banlieues und Favelas dieser Welt -, dann können die Konflikte nur aufeinanderprallen, und zwar gewaltsam.

Es steht nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als eine der größten Leistungen der demokratischen Moderne. Die Stadt gehört uns allen. Schützen wir sie.

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Quelle:
SZ vom 24.03.2016/cag
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