Terror:Unsere Gewalt ist immer schon da

Messerattacke an der Kathedrale Notre-Dame in Paris

"Das ist für Syrien." Höchste Sicherheitsstufe nach der Messerattacke an der Kathedrale Notre-Dame in Paris.

(Foto: Getty Images)

Wäre Europa friedlicher, wenn es die Terrororganisation IS nicht gäbe? Vermutlich nicht. Zu Attentätern werden Menschen aus ganz anderen Gründen.

Kommentar von Sonja Zekri

Das neueste Gesicht des Terrors in Europa ist das eines 40-jährigen Informatikers aus Lothringen. Er heißt Farid I., wurde in Algerien geboren und griff am Dienstag vor der Kathedrale Notre-Dame in Paris einen Polizisten mit einem Hammer und dem Ruf "Das ist für Syrien" an.

Farid I. hat sich zum sogenannten Islamischen Staat bekannt, der IS dürfte diesen jüngsten Neuzugang begrüßt haben. Klarer könnte der Fall nicht liegen. Und nicht komplizierter.

Der "Islamische Staat" macht sich so rasch Verbrechen fern seiner schrumpfenden Kerngebiete in Syrien und im Irak zu eigen, dass man den Überblick verlieren könnte.

Er ist nicht wählerisch: Kriminelle, Labile, eine 16-Jährige in Hannover, die vor einem Jahr einen Polizisten verletzte. Bisherige militante Islamisten wie die Hamas, die Hisbollah, selbst al-Qaida legten Wert auf logistische Mindestanforderungen und ideologische Standards. Dem IS genügt ein Hammer.

Vieles, unter anderem die Aussagen des IS selbst, spricht dafür, dass diese Taktik eine Kompensation für Gebietsverluste des IS in Syrien und Irak ist. Seit den Tagen Osama bin Ladens hat jede Generation Terroristen neue Ziele und Methoden gefunden, wurde die Ideologie radikaler, die Mediennutzung professioneller, der Zugang leichter.

Das Böse kommt nicht nur von außen - es ist schon immer da

Inzwischen ist das Bild der Gefährdungslage so diffus, dass der IS als Oberbegriff für alle möglichen Tätertypen - von der militanten Zelle bis zur messerstechenden Jugendlichen - fast wie eine Hilfskonstruktion wirkt. Zugespitzt ausgedrückt: Gut, dass es den IS gibt. So hat der Feind einen Namen.

Dabei mag sein Kampf gegen den Westen eine gewisse sinnstiftende Kraft besitzen, aber zum Hammer - zum Messer, zum Sprengstoffgürtel - greifen Europas Attentäter nur, weil das Reservoir an Kränkungsgefühlen und Zurückweisungen die Wut zuvor hat ins Unerträgliche wachsen lassen.

Was, um eine erhellende, wenn auch spekulative Überlegung anzustellen, wenn der IS morgen vom Erdboden verschwände? Würde Europa wieder zu friedlichen Zuständen zurückkehren? Möglicherweise, sicher ist es nicht.

Tabu der Gewalt

Wahrscheinlicher ist, dass Europa mit dem erhöhten Gewaltniveau wird leben müssen. Soziale Ungerechtigkeit, das Gefühl des Zurückgewiesenwerdens, Integrationsdefizite - alle Motive jenseits religiöser Verbrämung sind nicht aus der Welt. Das ist nicht nur sicherheitspolitisch ein Problem, sondern, vor allem für Deutschland, auch kulturell.

Wie kaum ein anderes Land hat sich die Bundesrepublik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zivilisationsbruch des Holocaust dem Ideal einer gewaltfreien Gesellschaft verschrieben.

Bei allen Widersprüchen und Rückschlägen - die Polizeigewalt gegen Studenten, NS-Täter in hohen Staatsfunktionen, der RAF-Terror, einzelne spektakuläre Verbrechen - war doch Gewalt als Mittel politischer oder sozialer Auseinandersetzung geächtet.

Der Märtyrer ist in arabischen Machtspielen eine feste Größe

Mit jedem Jahr rückten die kollektiven Erfahrungen von Krieg und Vertreibung in weitere Ferne, wurden Schulunterricht, familiäres Zusammenleben und politischer Diskurs umfassender befriedet. Parlamentarismus, Rechtsstaat und Minderheitenschutz boten den politischen Rahmen. Militärische Einsätze blieben umstritten. Die Gewaltbereitschaft erschien überwunden.

Das ist, zuallererst, eine zivilisatorische Leistung, um die Deutschland in der Welt beneidet wird. Es war möglicherweise die Voraussetzung, damit ein Land mit dieser Geschichte überhaupt wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen wurde.

Gesellschaften, die dieses Gewalttabu nicht kennen, wie fast alle Staaten des Nahen Ostens, beklagen die Opfer von Kriegen, Anschlägen oder Polizeiwillkür nicht weniger. Dennoch ist Gewalt als eine Art der Kommunikation und als Instrument zur Durchsetzung von Interessen nicht nur von jenen akzeptiert, die sie ausüben, sondern zuweilen selbst von denen, die sie erleiden. Der Märtyrer kann seiner Sache Legitimität verleihen, er ist in arabischen Machtspielen eine feste Größe.

Die Gewalt in der deutschen Gesellschaft wird weiter entstehen

In Deutschland hingegen gilt Gewalt als unbegreiflich, als verrückt, krank, kurz, als das ganz andere. Die Verständnislosigkeit gegenüber der Grausamkeit der Terroristen ist ethisch nachvollziehbar, aber hermeneutisch wenig ergiebig. Man muss die Sprache der Gewalt nicht sprechen, aber man sollte sie verstehen.

Inzwischen stellen die neuen Formen individualisierter Gewalt dieses Gesellschaftsbild ohnehin infrage. Wenn die Täter seit Jahrzehnten in Deutschland leben, mag es entlastend wirken, sie doch als Fremde zu behandeln. Tatsache ist, dass die Gewalt in der deutschen Gesellschaft entsteht und - IS hin, IS her - auch weiterhin entstehen wird. Sie hat keine neue Heimat gefunden. Sie war nie fort.

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