Terézia Moras Journal "Fleckenverlauf":Wir beobachten die Situation

Literaturbeilage

Terézia Mora ist 1971 in Sopron in Ungarn geboren und wurde 2018 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

(Foto: Friedrich Bungert/Friedrich Bungert)

Die Büchnerpreisträgerin Terézia Mora zeichnet in ihrem Tage- und Arbeitsbuch auf, wie das Leben in die Literatur eingeht, und was sie als Schriftstellerin vom Schreiben abhält.

Von Nico Bleutge

Als Darius Kopp nach dem Selbstmord seiner Frau ihren Laptop findet, entdeckt er eine Vielzahl privater Dateien. Dokumente, die Namen wie "Gnozis" oder "Schrott" tragen. Was zunächst kryptisch klingt, entpuppt sich als genaue Mitschrift der Vergangenheit. Flora hat ein Leben lang Tagebuch geführt. Kleine Skizzen und Notate, in denen sie ihrer depressiven Erkrankung genauso nachgeht wie der autoritären Gesellschaftsstruktur Ungarns, wo sie aufgewachsen ist. Manchmal bestehen die Einträge nur aus wenigen Wörtern, halten Traumbilder fest oder listen etwas auf, beschreiben Szenen aus dem Alltag oder halten ein Zitat aus einem Buch fest.

Möglicherweise hat sich die Schriftstellerin Terézia Mora ihre eigene Figur zum Vorbild genommen. Jedenfalls hat sie wie Flora, das heimliche Zentrum ihrer drei Romane über den IT-Experten Darius Kopp, über einen längeren Zeitraum hinweg Tagebuch geführt. Ein Tagebuch, das zugleich ein Arbeitsbuch ist und sich einem konkreten Projekt verdankt: sieben Jahre lang das eigene Leben mitzuschreiben. Genauer: die Zeit von 43 bis 50, "die härteste ,Zwischenzeit' für einen Menschen und eine Schriftstellerin", wie Mora notiert.

Glücklicherweise ist sie ihrem Vorhaben nicht treu geblieben. Aus den sieben Jahren sind fünfeinhalb geworden, der letzte Eintrag stammt aus dem März 2020, sodass keine Gefahr bestand, das Buch könnte am Ende doch noch in ein Corona-Tagebuch kippen. Sie beginnt es als öffentlichen Blog und führt es dann in Form von geschlossenen Einträgen fort. Es ist wirklich eine Mitschrift, aber nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch des gesellschaftlichen Alltags, den Mora genau beobachtet und dessen Strukturen sie zu analysieren versucht. So wundert es nicht, dass sie einmal vom "Seismograph-Sein" schreibt, das ihr Leben als Schriftstellerin auszeichne, und in einem späteren Eintrag ergänzt: "Wir beobachten weiter die Situation."

Das Spiel: Immer den fünften Satz auf der 23. Seite eines Buches notieren

Was Terézia Mora aus ihren Beobachtungen macht, könnte man ganz banal Alltagsskizzen nennen. In den besten Fällen aber verwandelt sie die Details in bildgenaue Miniaturen. Hier setzt die Bewegung einer weißen Bauplane Erinnerungen an Glücksmomente aus der Kindheit frei, dort werden die aufgereihten Bildbände in der Auslage eines Buchladens zu einem Tableau der Imagination: "Die Blumentöpfe. Die beiden Männer in den Mänteln zwischen den Rohren. Der Ellenbogen und die Achselhöhlen. Die surrealen Welten. Das Neon und das Protect me from what I want. Der rote Hut. Die Beckmann-Zeichnungen, sowieso. Und der gebeugte Körper unten rechts."

Tatsächlich kann man von den Einzelheiten der Auslage nicht nur lesen - man kann sie auch sehen. Mora hat Fotografien mancher Motive zwischen die Sätze gestreut, Schnappschüsse oft, von Stadtatmosphären oder absurden Szenerien wie dem Schild einer Feuerwehrzufahrt vor einem großen Gestrüpp. Überhaupt gibt es ein Jonglieren mit verschiedenen Medien und Textsorten, die von Briefen über Listen bis zu Gedichtübersetzungen reichen - und die Mora verwendet, um die vielen Splitter ihres Buches ein wenig zu ordnen. Dazu gehört auch das Spiel, nicht einfach nur Lektüreerlebnisse zu notieren, sondern immer den fünften Satz auf der 23. Seite eines Buches, ein Spiel, das vor allem deshalb über die Länge des Bandes hinweg trägt, weil Mora das Verfahren ein ums andere Mal lustvoll untergräbt.

Man kann viel Literaturbetriebs-Gossip in diesem Tage- und Arbeitsbuch finden und Lamentationen über den Alltag einer Schriftstellerin. Wochenlange Lesereisen, Auftragsarbeiten, unmotivierte Veranstalter, der immerwährende Kampf um eine wenigstens halbwegs ausreichende Bezahlung - Dinge, die die Autorin von dem abhalten, um das es eigentlich geht: zu schreiben. In ihrer Fülle und in ihrer Ähnlichkeit gehören diese Klage-Passagen nicht unbedingt zu den anregendsten des Buches. Weitaus stärker ist Mora dort, wo sie deutlich macht, durch wie viele Fäden Leben und Schreiben miteinander verwoben sind und welche Notwendigkeit das Schreiben als Überlebensmittel hat: "Schreiben ist auch Stolpern, nur ist das Ergebnis am Ende sichtbarer, vorzeigbarer, verwertbarer, auch für andere. Allein dadurch, dass es sich materialisiert hat. Deswegen kann ich nicht einfach irgendein Buch schreiben, es muss eins sein, das weiter an meinem Kern baut."

Terézia Moras Journal "Fleckenverlauf": Terézia Mora: Fleckenverlauf. Ein Tage- und Arbeitsbuch. Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 286 Seiten, 22 Euro.

Terézia Mora: Fleckenverlauf. Ein Tage- und Arbeitsbuch. Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 286 Seiten, 22 Euro.

Ein Text könne alles aufnehmen, das existiert, hat Christoph Meckel einmal gesagt. Voraussetzung sei jedoch, dass das Aufgenommene "vom Autor verwandelt" werde. So ähnlich verfährt Terézia Mora in ihrer schriftstellerischen Arbeit. An vielen Beispielen zeigt sie, wie sich das Schreiben aus den alltäglichen Beobachtungen speist. Da wandert ein Lebensmittelladen gegenüber einem Friedhof in den Erzählungsband "Die Liebe unter Aliens" ein, ebenso ein roter Golf (der aber später wieder gestrichen wird). Andernorts eignet sich eine kreischende Schulklasse für die Kulisse eines Textes. Selbst ein nerviger Behördengang kann wichtig werden und sich am Ende, in einen ganz anderen Kontext versetzt freilich, als Teil des Romans "Auf dem Seil" wiederfinden.

Eine "déformation professionelle" nennt Mora ihre Neigung an einer Stelle. Sie speichere nur, was ihr für das Schreiben verwendbar scheine, anderes vergesse sie einfach. Das lasse sich gut als Entschuldigung benutzen, wenn man Menschen auf der Straße nicht wiedererkenne, meint Mora. Es ist aber auch ein Glück für dieses Buch. Denn so kann man genaue Kurzanalysen der politischen Situation in Ungarn lesen oder Notizen zur NS-Geschichte in Moras Geburtsstadt Sopron. Einträge über den Zusammenhang von Körper und Sprache. Pläne, wie die nächsten Bücher aussehen könnten. Und Sätze, in denen Mora feststellt, die Quelle ihrer Angst sei Ungarn, und die Angst sei ihr "Erbe". Nicht von ungefähr lautet der Titel des Buches "Fleckenverlauf". Es sind die blauen Flecke nach einem Sturz mit dem Fahrrad. Der Fleckenverlauf ist bei Terézia Mora immer auch ein Schmerzensverlauf.

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