Herbsttagung der Akademie für Sprache und Dichtung:Ich war's nicht

Georg-Büchner-Preis für Terezia Mora

Es gibt keinen ambivalenzfreien Raum, weder im Schreiben noch im Lesen: Terézia Mora wurde 2018 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

(Foto: Frank Rumpenhorst/Picture Alliance/DPA)

Müssen sich Autoren von Gewalttaten ihrer Figuren distanzieren? An der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung diskutierten Terézia Mora und Arnold Stadler über Moral und Literatur.

Von Miryam Schellbach

Dass die Tugend doch bloß der Absatz unter den Schuhen der Tugendhaften sei, ist ein ewig gültiges Bild, das Georg Büchner mit seinem Revolutionsdrama "Dantons Tod" in die Welt gesetzt hat. In Darmstadt, wo Büchner im Völkerschlachtjahr 1813 geboren wurde und wo heute Jahr um Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis die renommierteste deutsche Literaturauszeichnung vergeben wird, war der junge Schüler Büchner aber nicht glücklich. Freier fühle er sich in Straßburg, seinem Studienort, so schrieb er in den Briefen an die Eltern. Im heimischen Großherzogtum Hessen galt er als Oppositioneller mit Tendenz zu revolutionären Umtrieben. Nicht ganz ohne Grund: 1834 verfasste er den Hessischen Landboten, eine die sozialen Missstände anklagende Flugschrift mit dem vielzitierten Aufruf "Friede den Hütten, Krieg den Palästen", über den die Schüler im Deutschunterricht heute diskutieren, als wäre er der Urcode für Büchners verdeckte Poetologie.

Aber, ist das überhaupt Literatur? Ist das nicht Politik? Gar Moral? Die Darmstädter Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die den Büchner-Preis an diesem Samstag an Clemens Setz vergibt, hat sich dieses Scheinwiderspruchs im Windschatten der großen Preisverleihung angenommen. Für viel Erregung habe das Thema "Literatur & Moral" schon im Vorfeld gesorgt, so eröffnet der Präsident der Akademie, Ernst Osterkamp, das Gespräch mit seinen beiden hochkarätigen, denn jeweils auch schon mit dem Büchner-Preis ausgezeichneten Gästen Terézia Mora und Arnold Stadler. Dass die "Autonomie der Kunst eine relativ junge Errungenschaft" sei, gibt Osterkamp seinen Gästen noch mit auf den Weg, schließlich habe sich die Kunst erst spät aus ihren religiösen und, ja, moralischen Verstrickungen lösen können. Neuerdings aber sei, so Osterkamps behutsames ausgedrücktes Gefühl, eine "Sensibilitätssteigerung" gegenüber der Literatur zu beobachten.

Terézia Mora musste sich selbst brechen, um die Gewalt in ihrer Erzählung auszuhalten

Wer in dieser unbestritten sensibilitätsgesteigerten öffentlichen Debatte um Trigger-Warnungen, kulturelle Aneignung oder "Sensitivity Reading" Zeichen eines generelleren Verfalls wahrnehmen wollte, fand mit Mora und Stadler aber keine Säulenheiligen. Was eine harte Debatte über die Ethik literarischen Schreibens hätte werden können, nahm bei den beiden vielmehr eine interessante Wendung hin zur kritischen Reflexion auf das eigene schriftstellerische Tun.

Terézia Mora, die ihre Frankfurter Poetikvorlesung "Nicht sterben" von 2013/2014 zitierte, interessierte sich dafür, wie Gewalt mit literarischen Mitteln zu begegnen ist. Lakonisch zählt sie die physischen und psychischen Schrecklichkeiten auf, die sie ihre Protagonisten in ihren vier Romanen widerfahren lässt. Sie habe "sich selbst brechen müssen", um diese Grausamkeiten literarisch zu schildern, sagt sie, deswegen würde sie - mehr aus Gründen des Selbstschutzes - auch einige der Stellen nicht öffentlich lesen.

Aber Terézia Mora ist auch Übersetzerin, transportiert und verbürgt damit Geschichten, die nicht ihre eigenen sind. Einmal habe sie einen Roman aus dem Ungarischen übertragen, in dessen Zentrum ein Frauenhasser stand. Die steilste, aber unwidersprochene These Moras an diesem Abend ist, dass der männliche Autor dieser Frauenhasser-Geschichte sich von seinem Protagonisten hätte "zumindest in einem Halbsatz" distanzieren müssen. Die Übersetzerin jedenfalls fühlte sich abgestoßen, hätte den Auftrag gern abgegeben, ihn dann aber doch zu Ende gebracht.

Longlist Deutscher Buchpreis

Nicht sehr überfordert: Arnold Stadler erhielt den Büchner-Preis 1999.

(Foto: Rolf Haid/Picture Alliance/DPA)

Vom Ende der Kunst, so hat es die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen einmal beschrieben, ist schon die Rede, seitdem es die Kunst überhaupt gibt. Auch an der Deutschen Akademie diskutierte man bereits 1991 in einem zweitägigen Seminar die Frage "Hat die deutsche Sprache ein Geschlecht?". In diesen 30 Jahren mag sich die Komplexität des moralischen Anspruchs an die Literatur vergrößert haben. Zu der Dimension der Geschlechtergerechtigkeit kamen andere hinzu, die ökologische etwa. Da könnte, so befürchtet Ernst Osterkamp, eine "ethische Überforderung" einsetzen angesichts dieser komplexen Welt und ihrer zahlreichen moralischen Fallstricke.

Nicht sehr überfordert scheint sich allerdings Arnold Stadler zu fühlen. Die Moral als solche gäbe es überhaupt nicht, denn "die Welt ist stets im Wandel". Diese Beobachtung hat nur Georg Büchner selbst vortrefflicher zugespitzt. In "Woyzeck" heißt es herrlich tautologisch: "Moral ist, wenn man moralisch ist." Es ist eher die Vielschichtigkeit der Anekdoten Terézia Moras, von der man an diesem Abend etwas über den Zusammenhang von Literatur und Moral lernen konnte. Vor allem, dass es keinen ambivalenzfreien Raum gibt, weder im Schreiben noch im Lesen, aber ganz sicher einen ethischen Imperativ, einen Anspruch auf "Wahrhaftigkeit".

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