Als Robert Habeck jüngst auf einem Industriekongress die Überlastung seiner Mitarbeiter beklagte, überraschte weniger die Sache selbst als vielmehr der Umstand, dass ein ranghoher Politiker die Folgen beruflichen Dauerstresses öffentlich thematisierte. Habecks Wirtschaftsministerium stellt allerdings keine Ausnahme dar: Laut einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes von 2019 fühlen sich 53 Prozent der Arbeitnehmer häufig oder sehr häufig während der Arbeit unter Zeitdruck. Nach dem Heimweg beginnt für die meisten keine Phase der Entspannung, sondern der Haushaltsführung und Kinderbetreuung. Die Eltern kleiner Kinder verrichten Erhebungen zufolge in der Woche mehr als 60 Stunden bezahlter und unbezahlter Arbeit. Drei Viertel der Mütter minderjähriger Kinder können sich von der Belastung nicht ausreichend erholen.
Alarmierende Zahlen wie diese nimmt die feministische Journalistin Teresa Bücker in ihrem Sachbuch "Alle_Zeit" zum Ausgangspunkt, um das Bild eines Landes im Dauerstress zu zeichnen, der zur eklatanten Vernachlässigung persönlicher Bedürfnisse führt, die individuelle Freiheit einschränkt und die Gesundheit gefährdet. Als Konsequenz fordert Bücker eine neue Kategorie gesellschaftspolitischer Debatten und Entscheidungen: die Zeit. Auf diese Idee ist sie nicht als Erste gekommen, das schmälert jedoch nicht die Dringlichkeit ihres Appells. Dessen Stärke liegt darin, dass Bücker das Zeitproblem nicht bloß in die lange Liste der Baustellen und Perspektiven einreiht, die den politischen Diskurs der Gegenwart beherrschen. Stattdessen verortet sie es an der Wurzel anderer Reizthemen.
Lediglich ein Drittel aller Kinder findet, dass ihre Väter genug Zeit für sie haben
Beispielhaft gelingt das im Fall der Gleichstellungsdebatte: Hier identifiziert Bücker die Forderung des bedingungslos leistungsorientierten Lean-in-Feminismus nach besseren Karrierechancen für (starke) Frauen sofort als unzureichend. Schließlich sei damit nicht gesagt, dass Frauen nicht weiterhin den Großteil der Haushaltsführung übernähmen - sie täten es dann eben am Ende langer Arbeitstage. Das Kernproblem sei prinzipieller: die zeitliche Unvereinbarkeit von Arbeit, Haushalt und Familie, geschweige denn Freizeit und politischem Engagement. Weil sich Zeit im Gegensatz zu Geld nicht mehren lässt, sieht Bücker die Lösung in deren Umverteilung. Was sie im Sinn hat, wird deutlich, wenn sie die Vier-in-einem-Perspektive der Soziologin Frigga Haug als Modell zeitgemäßen Alltagslebens anführt: Jedem Erwachsenen sollen pro Tag je vier Stunden für Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Selbstfürsorge und gesellschaftspolitisches Engagement zur Verfügung stehen.
Dabei erhebt Bücker statt Geldscheinen nicht Stunden zur neuen Wohlstandswährung, sondern legt das Augenmerk auf die Qualität erlebter Zeit. Studien, die über den Tag verteilte "Zeitkonfetti" wie die zehn Minuten zwischen Wickeltisch und Abendbrot als Freizeit rechnen, werden dem Empfinden der Betroffenen nicht gerecht. Menschen brauchen ausreichend zusammenhängende Zeiträume für ihre Aufgaben und Bedürfnisse. Klar wird hier, wie das Zeitproblem über die Frage der Geschlechtergerechtigkeit hinausreicht: Fast die Hälfte aller Eltern in Deutschland belastet fehlende Zeit im Alltag am meisten. Nur vier Prozent der Männer, die Angehörige pflegen, arbeiten mit reduzierter Stundenzahl. Lediglich ein Drittel aller Kinder findet, dass ihre Väter genug Zeit für sie haben.
Die Bedeutung von Zeit als politischer und kultureller Größe zeigt Bücker auch für die Teilhabe am demokratischen Leben: Drei Viertel derjenigen, die sich noch nie ehrenamtlich engagiert haben, nennen Zeitmangel als Grund dafür. Unter den Engagierten bringen 60 Prozent lediglich eine bis zwei Stunden in der Woche auf. Zu Recht fragt Bücker, wie viel solche "geringfügigen Spenden" bewirken, und merkt an: Auch Engagement muss man sich leisten können.
Gleiches gilt für die Selbstfürsorge. Hier entwirft Bücker einen idealen Alltag, der unverplante Zeit enthält, in der man die Zeit vergessen darf und eintauchen in Momente des Flows, der persönlichen Erfüllung, Entwicklung und Sinnhaftigkeit. Das hat einen ganz anderen Klang als die Unkultur von Überarbeitung, atypischen Arbeitszeiten und ständiger Verfügbarkeit gerade auch im Home-Office.
In Deutschland beläuft sich die nach Feierabend geleistete Arbeit auf 900000 zusätzliche Vollzeitjobs
Da fragt sich, ob all das nicht wunderbar damit zusammenpasst, dass 80 Prozent der Beschäftigten in Europa sich eine Vier-Tage-Woche wünschen, je nach Studie mit einer Arbeitszeit von nur 20 Stunden. Die Gegenargumente liegen auf der Hand: Die Arbeitszeit hat sich bereits halbiert gegenüber den täglichen 16 Stunden, die vor 200 Jahren noch üblich waren. Sind die Angestellten nicht bloß weinerlich geworden? Bücker kontert, die Arbeitszeit sei nicht im Allgemeinen gesunken, sondern diffundiert: einerseits hin zu Minijobs, andererseits zu Überstunden. In Deutschland beläuft sich die nach Feierabend geleistete Arbeit auf einen Jahresumfang von 900 000 zusätzlichen Vollzeitjobs. Ließen sich diese und andere Stunden nicht so verteilen, dass sowohl die Wünsche nach dringender Entlastung als auch nach einer mehr als nur geringfügigen Beschäftigung in Erfüllung gingen?
Noch schwerer wiegt die Frage, wie sich der Verzicht auf Arbeitsstunden finanzieren lässt, besonders in Zeiten steigender Preise. Bücker entgegnet, das Geld sei durchaus vorhanden, nur müssten erwirtschaftete Profite weniger den Unternehmen und vermehrt deren Angestellten zukommen. Dann könnten diese dank höherer Löhne ihr Pensum zurückschrauben. Auch einen von der Zahl der Arbeitsstunden unabhängigen Mindestlohn pro Woche oder Monat bringt sie ins Spiel, genauso wie einen "Verzicht auf Altersgrenzen beim Bafög, angemessen bezahlte Weiterbildungszeiten und Freiwilligendienste oder ein bedingungsloses Grundeinkommen". Alle diese Vorschläge sind zu bedenken, verbleiben jedoch notgedrungen (es ist ja das Buch einer Gesellschaftskritikerin, nicht ein Regierungsprogramm) in der Man-müsste-Sphäre. Die Schlagkraft von "Alle_Zeit" liegt in seiner Grundidee, die uns herausfordert, den zermürbenden Takt unseres Alltagslebens gesamtgesellschaftlich zu hinterfragen. Dass wir dies endlich tun, hat nicht nur Bückers Buch, sondern haben wir alle uns verdient.