Teodor Currentzis:Exzentriker des Unbewussten

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Wirkt auf viele wie ein Popstar oder Poser: Teodor Currentzis. (Foto: Nadia Romanova)

Der Dirigent Teodor Currentzis polarisiert bei den Salzburger Festspielen. Er gilt wahlweise als Genie, Guru oder Scharlatan. Dabei drückt er bei Mozart doch nur ein bisschen mehr aufs Tempo. Oder?

Von Helmut Mauró

Die einen sagen dem Dirigenten Teodor Currentzis magische Kräfte nach, die anderen esoterische Spinnerei. Unbestritten ist: Bei den Salzburger Festspielen bewegt er die Menschen und polarisiert wie kein anderer. Die einen neigen zu Euphorie und Schwärmerei, andere sind geradezu erbost über seine Exzentrik und seine musikalische Jagd nach Extremen. Ein Mann im Spannungsfeld zwischen Genie, Guru und Scharlatan. Fest steht: Die Sache mit der Musik ist ihm ernst, wenn nicht heilig. Der 49-jährige Grieche spricht darüber meist im Zusammenhang von Spiritualität, von Glauben sogar, und neuerdings oft von Unterbewusstsein. Das kann zu Missverständnissen führen - oder zum Nachdenken. Musik sei nicht intellektuell, sagte Currentzis einmal, sie spiele sich im Unterbewussten ab.

Das gilt auch für Romeo Castelluccis Inszenierung von Mozarts "Don Giovanni", deren Aufführungen Currentzis derzeit in Salzburg dirigiert. Im langen schwarzen Hemd, mit schwarzen Stiefeln. Er sagt, dieses Outfit trage er auch privat, das sei nichts Besonders. Schon die extravagante Art, wie er dirigiert, finden seine Kritiker affektiert und manieriert. Bei der Champagner-Arie im "Don Giovanni" lässt er sich mit seinen Musikern aus dem Orchestergraben hochfahren und die Musik in Stroboskopblitzen explodieren. Currentzis ist ein Übertreibungskünstler par excellence. Wie er auf die Tube drückt, das Tempo steigert oder auch mehr als üblich dehnt, die Partitur ins Extreme treibt, finden viele unangemessen. Neben Begeisterungsstürmen gab es für den "Don Giovanni" auch herbe Schelte. Von einem "schamlosen Egotrip" des Dirigenten sprach der Kollege von der FAZ, der Currentzis einen "Sektenführer" und "Egomanen" schimpft. Auch der Spiegel leitet bereits die Currentzis-Dämmerung ein.

Bei Nikolaus Harnoncourt wurde damals auch das Tempo moniert. Es muss herhalten für etwas Unsagbares, Beunruhigendes

Es ist ein bisschen wie damals, als Nikolaus Harnoncourt auf den Plan trat mit dem Anspruch, alles neu und anders zu machen. Auch da wurde heftig gestritten, ob man Mozart denn so schnell spielen dürfe, wie Harnoncourt das tat, und übersah, was er eigentlich wollte. Die gleichen Diskussionen finden nun wieder statt, und weil die gefühlte Wahrheit an der Sache so schwer festzumachen ist, weil die flüchtige Kunst der Musik um einen noch flüchtigeren spirituellen Kern herum stattfindet, klammert man sich an einen messbaren Parameter: das Tempo. Das sagt isoliert betrachtet zwar gar nichts aus, muss aber herhalten für das Unsagbare, das zur Beunruhigung führt. Aber vielleicht war es nicht das Tempo, den einen zu schnell, dann wieder zu langsam, auch nicht die schrecklich falschen Töne der Hörner, nicht die eher mittelmäßige Sängerin. Vielleicht waren es Phänomene, die Currentzis in der Partitur sah und mit seinem Orchester in Klang übertrug.

Sein Orchester, das von ihm gegründete Ensemble MusicAeterna, das auf historischen Instrumenten spielt, ist ganz auf ihn eingeschworen. Der Wahlrusse Currentzis, der in Sankt Petersburg studierte, ist zwar seit vier Jahren Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters in Stuttgart, ansonsten jedoch weiterhin mit seinem Chor und seiner MusicAeterna aktiv - neuerdings in Sankt Petersburg. Zuvor war er von 2011 bis 2019 künstlerischer Leiter des Opern- und Balletttheaters Perm. Aufmerksam auf den jungen Dirigenten mit den griechischen Wurzeln wurde man im Westen durch eine spektakuläre Aufnahme von Mozarts "Requiem" (Alpha/Note1). Später folgten drei Mozart-Opern ("Le nozze di Figaro", "Don Giovanni" und "Così fan tutte"), die den Currentzis-Kult beflügelten.

Teodor Currentzis in Aktion. Schon seine Art zu dirigieren halten viele für affektiert und manieriert. (Foto: Anton Zavjyalov)

Mit seinem Orchester arbeite er wie in einem Geheimbund, heißt es. Die Begeisterung von Currentzis für Klöster und Orden ist bekannt. Zu Beginn der Proben schließen alle die Augen und spielen gar nichts. Fünfzehn Minuten lang. Nichts als Stille. Erst dann beginnt der musikalische Teil der Probe. Es ist eine Konzentrationsübung, eine Distanzierung vom Alltag, das Eintauchen in eine spirituelle Welt, in der andere Gesetze gelten und anderes sichtbar und hörbar wird.

Die ungeheure Düsternis von Mozarts g-Moll-Symphonie etwa, in der Currentzis jüngst bei seinem Salzburger Konzert das gesamte Orchester wie eine Stimme in einem Atem hauchend ersterben ließ. Sekundenlang. Und zwar nicht erst am Ende, sondern gleich im ersten Drittel des Kopfsatzes. Der Rest der Symphonie klingt folglich wie aus einem Totenreich, gedämpft, kaum lauter als mezzoforte, wahrlich beunruhigend. Das hat man so noch nicht gehört. Schon gar nicht bei Mozart. Aber es leuchtet sofort ein, wenn man einmal das verkitschte Mozart-Bild des 20. Jahrhunderts und die Salzburger Marketing-Klischees vergisst. Mozart hat große Todesmusik geschrieben, ab sofort wird man die bisher fröhlich federnde g-Moll-Symphonie dazurechnen müssen.

Im Gespräch wird der Dirigent selten konkret, wenn er über das redet, was ihm wirklich am Herzen liegt, was seine Persönlichkeit und seinen Lebensinhalt ausmacht. Er hat vor seinem Amtsantritt in Stuttgart erzählt, was ihn musikalisch bewegt, wie er aus dem fusionierten SWR-Orchester mit den Musikern einen neunen Klangkörper erschaffen will, einen neuen Klang, wie es ihn in Deutschland noch nicht gegeben hat. Einerseits meint er das sehr ernst, andererseits wählt er zu später Stunde auch mal Formulierungen, die er am nächsten Tag nicht unbedingt als Schlagzeile wiederfinden möchte. "Geben Sie mir fünf oder zehn Jahre, dann werde ich die klassische Musik retten" ist so ein Satz, den ihm ein britischer Journalist nach ein paar Drinks entlockte. So habe er das aber nicht gemeint, sagte Currentzis später, darum ginge es ihm auch gar nicht. Andererseits spürt jeder, der seine Konzerte besucht, dass es diesem Dirigenten um so viel mehr geht als reine Unterhaltung. Dass er die Zerbrechlichkeit dieser Kunst als dauerhaftes Ersterben begreift, das es für einen Moment aufzuhalten gilt.

Currentzis und seine Musiker leben und arbeiten als künstlerische Patchworkfamilie

Dazu muss man vieles anders machen, als es das Publikum gewohnt ist, muss ihm auch Schönklang verwehren, um sprechenden Ausdruck zu gewinnen. Dafür muss man als Person einstehen und darf sich nicht von wohlmeinenden Veranstaltern und spendablen Beisitzern kirre machen lassen. Dieser Mut ist kein kleiner und beschränkt sich bei Currentzis auch nicht nur auf die Kunst. Es gibt Kräfte in Russland, die gegen ihn arbeiten und sich nicht mit Kritik am richtigen oder falschen Aufführungstempo bescheiden. Da geht es um totalitäre Traditionen, in denen Kunst vor allem Propagandainstrument ist, das es zu kontrollieren gilt.

Currentzis weiß das, aber er sagt, man solle sich nicht zu sehr den negativen Einflüssen hingeben und sich vor allem nie in die Position des Beleidigten oder Enttäuschten drängen lassen. Im ostrussischen Perm, das unter Stalin Molotow hieß und für seine Gefangenenlager berüchtigt war, fanden Currentzis und seine Musiker lange Zeit die Abgeschiedenheit und Ruhe, ihre Projekte zu erarbeiten, als künstlerische Patchworkfamilie zu leben. Man bringt die Kinder mit zu den Proben, und die Probenzeiten werden nicht in Stunden und Minuten gemessen, sondern in Ergebnissen. Egal, ob es zehn Minuten dauert oder zehn Stunden, das Gewünschte zu erreichen. Daran dürfte sich durch den Wechsel nach Sankt Petersburg, wo MusicAeterna bei Dom Radio ein neues künstlerisches Domizil gefunden hat, nichts geändert haben.

Currentzis verlangt Geduld und Ausdauer von seinen Mitmusikern - und auch Verrücktheit. Die ist absolute Bedingung für sein Tun. Manchmal treibt ihn die Angst um, er könne "normal" werden, und die Musik mit ihm. Bisher droht diesbezüglich eher keine Gefahr. Am 20. August wird er noch einmal "Don Giovanni" dirigieren und einen Strom der Leidenschaften in Gang setzen, der alles und jeden mitreißt.

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