Süddeutsche Zeitung

"Tender Techno":Songs mit Ausrufezeichen

DJ Koze und andere Musiker der Elektro-Szene entdecken die Harmonie im Techno: Die Clubs erschauern und Tänzer jubeln zu Songs, die sich eher für geschwenkte Feuerzeuge eignen würden. Die Afterhour-Generation setzt sich ein musikalisches Denkmal.

Von Paul-Philipp Hanske

Es gibt diese Momente im Club, da ist die Musik plötzlich mit einem Ausrufezeichen versehen. Man merkt das dann daran, dass ein Ruck durch die Menge der Tanzenden geht, dem dann in die Luft erhobene Hände und entzückte Jubelrufe folgen: das Prinzip Szenen-Applaus, übertragen in den Club. Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese Ausnahmesituation auszulösen.

Die einfachste ist sicher, einen weithin akzeptierten Hit zu spielen. Aber auch genau anders herum funktioniert es: auch das Neue, Unerwartete wird in der innovationsversessenen Tanzmusikszene gerne mit Jubel und Verbrüderung begrüßt. Wie dieses Neue beschaffen sein konnte, dafür gab es in den vergangenen Jahren einige Regeln. Was immer ging, waren die klassischen Steigerungsgeschichten: noch mehr Genres und lokale Musikszenen in einem einzigen Track, noch wobbeligere Basslines, noch vertracktere Beats. Seit über zehn Jahren auch sehr beliebt und irgendwie nicht totzukriegen: Retro-Innovationen. Jeder noch so absurde Stil der letzten Dekaden feierte in den Clubs seine gloriose Wiederauferstehung.

Das alles muss hier vorausgeschickt werden, um zu erklären, warum die neuesten Songs mit Ausrufezeichen, so ungewöhnlich sind. Etwa das Stück "It's Only". Produziert hat es ursprünglich der britische "Intellektuellen-House"-Produzent Matthew Herbert und es ist eigentlich schon über zehn Jahre alt. Es ist ein etwas aus der Zeit gefallenes jazziges House-Stück, das jedoch durch die unglaublichen Vocals der Sängerin Dani Siciliano besticht, die mit sehr warmer und zugleich gebrochener Stimme eine Ode an ihren abwesenden Geliebten singt: ". . . you carefully stealing pieces of me . . ."

Dieser längst vergessene Song wurde nun also Ende des vergangenen Jahres von dem Hamburger Musiker und Produzenten DJ Koze geremixt. Und was er daraus machte, lässt die Clubs gerade erschauern, im wahrsten Sinn des Wortes. DJ Koze baut seinen komplett neu komponierten Remix um die Fragilität des Gesangs herum auf, er unterstreicht diese: gerade in Schwung gekommen, bricht das Song quasi ab, was bleibt, ist eine weniger hör- als spürbare Bassfläche, über der eine dünne, wackelige Keyboard-Melodie pfeift. In Verbindung mit dem Gesang Dani Sicilianos evoziert das eine derart authentische (weil brüchige) Intimität, wie sie auch in "intimitätsaffinen" Pop-Segmenten wie dem R'n'B nur selten zu spüren und in der Dance Music vollkommen ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich auch deshalb, weil die Tänzer plötzlich bei einem Song jubeln, zu dem womöglich geschwenkte Feuerzeuge viel besser passen würden.

Gibt es also einen neuen Trend namens "Kuscheltechno" oder "Schmusehouse"? Um diese Frage nicht ganz falsch zu beantworten, muss man wissen, dass es klar definierte, größere Trends in der Dance Music (die sich damit wieder einmal als Brennpunkt von Pop im Allgemeinen erweist) derzeit eigentlich nicht gibt. Die Devise ist eher mehr denn je: Alles ist möglich. Es gibt Neuauflagen von Detroit Techno und Oldschool House, ein endloses Disco-Revival, von Dubstep und Breakbeat infizierte Tanzmusik, jazziges Geklimper, düsteres Synthesizer-Geraune und eine Sammelschublade namens "Outsider-Dance", in der alles steckt, was gar nicht mehr zu benennen ist. Was trotz aller Unübersichtlichkeit auffällt, ist eine Häufung von dezidiert emotionalen Stücken.

Das unglaubliche "Howling" von Ry Cuming und Frank Wiedemann etwa: Cuming, ein in Berlin lebender Australier mit obligatorischem Vollbart singt mit zärtlicher Falsett-Stimme von nächtlichen, amourösen Angelegenheiten - und vom Heulen. Darum baut sich - im Remix des Berliner Duos Âme, der schnell bekannter wurde als die Vorlage - ein derart schwebendes, warmes, melancholisches House-Stück auf, dass man schon aus Holz sein muss, um davon nicht ergriffen zu werden. Auch die meisten Stücke auf dem dieser Tage erschienenen Album "Amygdala" von DJ Koze, das sehr ätherische "Nices Wölkchen" zum Beispiel, sind in ihrer Harmonie und Tenderness (interessanterweise verwendete DJ Koze selbst den Begriff "tender", um eines seiner Stücke, "La Ducquesa" im Internet zu beschreiben) erstaunlich. Kronprinz dieses Mini-Trends ist jedoch der Ire Mano Le Tough, der natürlich auch in Berlin lebt und dort regelmäßig in der Panorama-Bar auflegt.

Er veröffentlichte im März auf dem Münchner Label Permanent Vacation sein Album "Changing Days". Und auch er singt mit Falsett-Stimme über tiefsinnig-melancholische Technosongs, die allesamt etwas unheimlich klingen, Verzweiflung ausstrahlen. Es wären noch viele andere Tracks zu nennen, etwa aus dem Umfeld des Berliner Labels Innervisions oder des Kölner Labels Kompakt, aber auch von alten Hasen wie dem Frankfurter Act Isolée oder der Band Terranova. Und bei aller Unterschiedlichkeit ließen sie sich doch leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Sie sind emotional, mehrdeutig, aber nicht kitschig.

All das kommt natürlich nicht aus dem Nichts. Sämtliche Musik, von der hier die Rede ist, ist eine weitere Erscheinungsform des musikalischen Chamäleons House, genauer gesagt: des Deep House. Wenn man böse wäre, könnte man den neuen Kuschelsound auch als "Verweißbrotung" der ursprünglich schwarzen House Music beschreiben. Die weißen Männer geben jetzt den Ton an. Der House hatte und hat seine ganz eigene Emotionalität. Textzeilen wie "Move your body" oder "Baby wants to ride", die über einem monoton stampfenden Beat gestöhnt werden, sind eben alles andere als authentischer Ausdruck des "Je ne sais quoi" der Liebe. Sie sind - und das ist so großartig daran - Emphase des Augenblicks. Die neue Art von House Music ist dagegen stark von dem Barden-Boom der vergangenen Jahre beeinflusst, von neuen, bärtigen (und weißen) Singer-Songwritern wie Bon Iver, Scott Matthew oder William Fitzsimmons. Die besingen das Leben in all seiner Brüchigkeit und werden dafür gerne mit dem unschönen, weil machistischen Beinahmen "Schmerzensmänner" belegt.

Bei der Übertragung dieses sentimentalen Konzepts in den Club findet jedoch eine entscheidende und damit typisch popistische Umdeutung statt. Was an den Barden bisweilen nervt, ist die Tatsache, dass ihr Leiden und Lieben oft etwas Narzisstisches hat. Im Club hat Narzissmus jedoch nichts verloren.

Auf der Tanzfläche geht es nicht um den Rückzug ins Ich, es geht um Kontakt. Das Bemerkenswerte am "Tender Techno" ist deshalb, dass er einem ganz speziellen Gefühl ein musikalisches Denkmal setzt. Ein Gefühl, das auf interessante Weise quer steht zu den Vorstellungen, die sich die breite Öffentlichkeit vom Treiben in den Clubs, vor allem im Berliner Berghain, macht. Alle, die dort noch nicht waren, raunen ehrfürchtig-schaudernd von den "unknown pleasures" in den Darkrooms und sind froh, dass es einen Ort gibt, an dem die Exzessivität kaserniert ist.

All das gibt es, natürlich. Wesentlich verbreiteter, nämlich in jedem guten Club zu fortgeschrittener Stunde, zur sogenannten Afterhour zu finden, ist allerdings diese spezielle intime Situation, die nur die Heterotopie Club erschafft: diese Mischung aus abschwellendem Rausch und körperlicher Erschöpfung, die allgemein spürbare Gravitationskraft, die dazu führt, dass sich die Körper plötzlich anziehen, das tänzerische Sich-Umkreisen. Natürlich gibt es auch das schon lange.

Neu ist jedoch die Selbstverständlichkeit des Afterhour-Feierns im Club, genauer die Tatsache, dass eben das nicht mehr nur von "Technoheads" und sonstigen Eingeweihten praktiziert wird, sondern beinahe ein Massenphänomen geworden ist. Schon allein deshalb braucht man sich über den Zustand der zeitgenössischen Popmusik keine Sorgen zu machen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1639630
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.04.2013/kath/rus
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.