Technologie und Kultur:Wenn Daten glaubwürdiger werden als Erfahrungen

Attendees look at their phones as they wait in line to check out new gaming software at E3, the world's largest video game industry convention in Los Angeles

Im Einklang mit Datennetzen zu leben ist für manche Menschen wichtiger, als der Einklang mit der Natur

(Foto: REUTERS)

Die Welt hat sich zu einer Technosphäre entwickelt, in der Gefühle zunehmend zu Waren werden. Was dieser Welt fehlt, ist Kultur.

Gastbeitrag von Bernd Scherer

Designer und Ingenieure stellen die Welt her, Intellektuelle denken über die Welt nach: Diese beiden Prozesse driften in den letzten Jahrzehnten immer schneller auseinander. Während das Hauptinstrument des Nachdenkens in der Postmoderne die Dekonstruktion wurde, beteiligten sich die Ingenieure und Designer heute vornehmlich an der Konstruktion neuer Welten. Verloren die ersten mehr und mehr die materielle Welt aus dem Blick, erscheint der materiellen Hyperproduktion immer neuer Technologiegenerationen der Geist auszugehen - und mit dem Geist, wie wir sehen werden, noch viel mehr.

Im September 2017 stand Houston, Texas, unter Wasser, überflutet durch den Wirbelsturm Harvey. In Houston befindet sich das Mission Control Center, das die bemannte Raumfahrt der Nasa koordiniert. Houston ist außerdem ein Zentrum der Erdölindustrie, die wie keine andere das 20. Jahrhundert antrieb. Diese ganze technologische und wissenschaftlich hochgerüstete Welt wurde also lahmgelegt durch einen Sturm, der sich in seinen Dimensionen mit großer Wahrscheinlichkeit der Klimaerwärmung verdankt, die auch eine Folge dieses technisch-industriellen "Systems Houston" ist.

Ölpipelines und Datennetze: Diese Infrastrukturen bilden die "Natur" der anthropozänen Welt

Wie es dazu kam, lässt sich an Kurvendiagrammen ablesen, die wesentliche Parameter des Mensch-Erde-Systems darstellen: vom Bevölkerungswachstum über den Anstieg des Bruttosozialprodukts, den Bau von Staudämmen, den Wasserverbrauch, den Anstieg der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre, die Plastikproduktion bis hin zur Schrumpfung des Regenwaldes und der Biodiversität - sämtliche Kurven stiegen von Mitte des 20. Jahrhunderts an steil nach oben.

Die Erdsystemwissenschaftler nennen das die "Great Acceleration", die große Beschleunigung. Da sich alle Kurven auf Entwicklungen zurückführen lassen, die von Menschen ausgelöst wurden, erschien dem Atmosphärenchemiker Paul Crutzen die Bezeichnung "Anthropozän" als Epochenbezeichnung besonders geeignet. Der Mensch wird zur größten Naturkraft. Er greift nicht mehr nur in die Natur ein, er verändert den Planeten. Die Menschheitsgeschichte wird zur planetarischen Geschichte.

Diese planetarische Transformation gelang dem Menschen, indem er die angehäufte "deep time", die Tiefenzeit des Planeten, über fossile Energieträger wie Kohle und Erdöl für die Jetztzeit nutzbar machte. Das fossile Rohprodukt, das der Planet über Millionen Jahre in biochemischen Prozessen und Druck hergestellt hat, wird zur Energieform, die unsere Mobilität treibt. Es findet eine ungeheure Kompression von Zeit statt: Planetarische Zeit wird in Menschenzeit transformiert.

Gleichzeitig veränderte sich das Verständnis von Wissen in den letzten Jahrzehnten grundlegend. Bisher dienten die Naturwissenschaften und die Kulturwissenschaften wesentlich dazu, "Natur" und "Kultur" zu verstehen, Wissen über Natur und Kultur bereitzustellen. Dies hat sich in der anthropozänen Welt grundlegend geändert. Das Wissen wird jetzt vor allem dazu genützt, neue Welten herzustellen und diese so gut wie möglich zu steuern und zu kontrollieren.

Grundlegend war hierbei die Kybernetik, die ihre Geburtsstunde im Zweiten Weltkrieg hatte. Zu dieser Zeit rekrutierten die USA Legionen von Wissenschaftlern, um neue Technologien für den Sieg über Nazideutschland zu entwickeln. Ein zentrales Projekt war die Erforschung von Flugabwehrsystemen. Wie ließ sich die Flugbahn eines Flugzeugs vorhersagen und das Abwehrfeuer darauf einstellen?

Der Cyberspace dringt immer tiefer in unser soziales und psychisches Leben ein

Der Mathematiker Norbert Wiener und sein Kollege, der Elektroingenieur Julian Bigelow, entwickelten dafür ein Modell, in dem ein Mensch - der Pilot eines Flugzeugs - wie eine Maschine behandelt wird und dieselbe Sprache spricht wie diese: die Sprache der Mathematik. Die Ingenieure waren nicht mehr nur für die Hardware der Flugabwehrmaschinen zuständig, sondern auch für ihre Software, ihren Code.

Wissensgetriebene Maschinenwelten

Die Beziehung und Kommunikation zwischen dem Abwehrsystem und dem als Maschine konzipierten Piloten wird als "Black Box" behandelt, ist also irrelevant. Die Optimierung des Systems, sein "Lernen", erfolgt lediglich über Feedback-Schleifen. Wiener und Bigelow ging es nicht darum, Wissen über die Welt herzustellen. Vielmehr führten sie vor, wie sich die Kommunikationsbeziehung Mensch-Maschine so modellieren lässt, dass sie mathematisch bearbeitet werden kann und dann in Form eines Flugabwehrsystems Teil der Realität wird.

Diese Geburtsstunde der Kybernetik wird zum Ausgangspunkt, um auch andere Maschinen zu konstruieren, die mit menschlichen Akteuren interagieren. Am vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung steht die Industriewelt 4.0, in der die Maschinen weitgehend nur noch untereinander kommunizieren. Es sind diese wissensgetriebenen Maschinenwelten, mit denen wir immer neue Realitäten erschaffen.

Das Ideal sind dabei Technologien, die einen Zustand A in einen Zustand B überführen, ohne dass der Mensch darüber nachdenken muss. Unsere Alltagsabläufe sind mittlerweile gesättigt von solchen Technologien. Wir fahren Auto, ohne zu wissen, wie ein Motor funktioniert. Wir fliegen, ohne zu verstehen, wie ein Flugzeug in der Luft bleibt. Wir kommunizieren via Internet mit der ganzen Welt, ohne die Algorithmen zu kennen, die dies ermöglichen.

Um all diese Tätigkeiten sind riesige planetarische Infrastrukturen geschaffen worden: von Gas- und Ölpipelines über Autobahnen, Flughäfen bis zu Strom- und Datennetzen. Diese Infrastrukturen bilden die "Natur" der anthropozänen Welt. Ohne diese Technosphäre wäre das Leben, wie wir es kennen, nicht mehr möglich. Diese zweite, vom Menschen durch Technik erzeugte "Natur" ist das Hauptziel kulturellen Handelns geworden: Heute zielt das kulturelle Handeln weniger auf Sinn- und Bedeutungsproduktion als auf Welterzeugung - auf die Herstellung von Produkten.

Parallel zur Entwicklung dieser Technosphäre findet die Ökonomisierung der Gesellschaft statt, in deren Folge menschliches Handeln kommodifiziert, nämlich als Ware kauf- und verkaufbar und dadurch weiter naturalisiert wird.

Die amerikanische Drogeriekette Target etwa hat gemeinsam mit dem Statistik-Genie Andrew Pole eine neue Methode des Konsumenten-Trackings entwickelt. Aus dem Interesse der Kundinnen für 25 bestimmte Produkte lässt sich laut Pole schließen, dass die Frauen schwanger sind. Target nutzte diese Information, um den Frauen, die wegen der Schwangerschaft gerade ihre Lebensgewohnheiten und damit auch ihr Kaufverhalten umstellen, gezielt für sie zugeschnittene Werbung zu schicken.

Was passiert hier? Eine bestimmte Phase im Leben einer Person wird so reduziert, dass sich dadurch eine Korrelation mit den Produkten eines Einzelhändlers herstellen lässt. Doch die Informationen werden nicht nur aus einem komplexen Lebenskontext abstrahiert, sondern auch, und das ist entscheidend, in diesen eingespeist. So entfalten sie ihre Wirkungen. Eigenschaften menschlicher Subjektivität und Wareneigenschaften werden miteinander verschmolzen. Subjektive Erfahrungen werden in Objekte transformiert, Gefühle werden zu Waren, Menschen beginnen, den ihnen zugespielten Daten mehr zu trauen als ihren eigenen Erfahrungen.

Lebenspartner erfahren von der Schwangerschaft ihrer Frauen oder Freundinnen bisweilen nicht mehr zuerst durch diese selbst, sondern durch die Werbesendungen, die im gemeinsamen Briefkasten landen. So wird durch die tägliche Interaktion mit den von Algorithmen gesteuerten Maschinen unser Weltbild umgebaut. Der Cyberspace ist nicht eine Welt neben der realen Welt, sondern interagiert mit ihr und dringt in immer tiefere Schichten unseres sozialen und psychischen Lebens ein.

Objekte anthropozäner Weltproduktion

Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass diese Technologien die Grundlage für die planetarische Entgrenzung menschlicher Wirk- und Erfahrungsweisen im Anthropozän sind. Aber sie haben auch tief greifende soziale, politische und ökonomische Konsequenzen.

Zur Entwicklung und Steuerung der Infrastrukturen bedarf es einer geringen Zahl hochkreativer Menschen, von ihrer Anwendung sind aber alle betroffen. Diese werden die Objekte der anthropozänen Weltproduktion. Immer größere Anteile ihrer Handlungen werden durch die Hochtechnologien "naturalisiert". Das heißt, die Mehrzahl der Menschen werden ihrer Akteursrolle beraubt und damit Objekte von Prozessen, indem sie ihr Leben und Wissen nur noch einspeisen in Infrastrukturen wie die Plattformen von Google und Facebook, ohne kontrollieren zu können, was damit passiert.

Ökonomisch bedeutet dies eine Akkumulation von Macht in den Händen derer, die über die Infrastrukturen verfügen, seien sie physisch oder virtuell. Politisch bedeutet der Prozess die Entmündigung einer Mehrheit, die nicht mehr aktiv über die Entwicklungen mitbestimmen darf, die ihr Leben prägen. Das Leben dieser Mehrheit wird selbst Teil komplexer technologischer Steuerungsprozesse. Die reibungslose Steuerung von sozialen Prozessen ersetzt mehr und mehr die Politik und die politische Debatte. Experten treten an die Stelle der mündigen Bürger.

An die Stelle des Wissens treten Navigationsprozesse

Diese Naturalisierung und damit Entmündigung großer Teile unserer Gesellschaften im Zuge der Entgrenzung, der Planetarisierung menschlichen Handelns ist der tiefere Grund für die herrschende Unzufriedenheit, gerade auch in Wohlstandsgesellschaften.

So verstanden verweist das Anthropozän nicht nur auf die eingangs aufgelisteten Phänomene wie Klimawandel, Rückgang der Biodiversität etc., vielmehr steht es für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in unserem Welt- und Menschenverständnis. Dabei weicht die scheinbar klare Trennlinie von Natur und Kultur einer prozessualen Verwebung kultureller und natürlicher Prozesse - eine Entwicklung, die zurzeit zur zunehmenden Naturalisierung menschlicher Lebensbereiche führt.

Dabei werden sowohl unsere Gesellschaften grundlegend umgebaut, wie das Verständnis von menschlicher Subjektivität verändert. An die Stelle eines Wissens über die Welt treten Navigationsprozesse, in denen Weltherstellung und Weltwissen permanent interagieren. Diese Prozesse lassen sich nicht mehr in den durch Abgrenzung definierten Disziplinen der Wissenschaften allein erfassen.

Deshalb erfordert das Anthropozän neue Formen der Wissensproduktion und zugleich neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe und subjektiver Ausdrucksmöglichkeiten. Anders ausgedrückt: Das Anthropozän ist zurzeit gekennzeichnet durch einen technologischen Überschuss an Weltproduktion bei einem gleichzeitigen Sinndefizit. Die Naturalisierungsprojekte des Anthropozäns müssen ergänzt werden um Kulturprojekte.

Statt einer rein produktorientierten Technologieentwicklung, die selbst menschliches Leben zum Gegenstand von Geschäftsmodellen macht, benötigen wir Probebühnen für die neuen Phänomene, in denen soziale Akteure, Wissenschaftler und Künstler gemeinsam Zukunftsentwürfe erproben. Die Probebühnen sind einerseits Orte der Praxis, in ihnen werden Weltausschnitte hergestellt. Anderseits sind sie im Sinne der künstlerischen Praxis Orte der Imagination. Es geht auf den Probebühnen nicht um das Erzeugen von Fakten und Objekten, sondern den Entwurf von Möglichkeiten, um vor der endgültigen Realisierung in einem gesellschaftlichen Prozess, in dem die Betroffenen der Anthropozänentwicklung selbst auch Akteure werden, Optionen, Denk- und Wahrnehmungsweisen durchspielen zu können.

Bernd Scherer ist Intendant des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin, wo seit 2013 etliche Veranstaltungen zum Anthropozän stattfanden. Gemeinsam mit Jürgen Renn hat Scherer 2015 den Band "Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge" herausgegeben (Matthes & Seitz).

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